Jesidin auf der Flucht "Ich dachte oft daran, mich umzubringen"

DOHUK · "Ich wünschte, ich wäre tot. Oft habe ich in den letzten Wochen daran gedacht, mir das Leben zu nehmen", erzählt Amscha mit monotoner Stimme, während sie auf den Boden starrt.

 In Freiheit, wenngleich traumatisiert: Amscha hat in ihrer Gefangenschaft Schreckliches erlebt.

In Freiheit, wenngleich traumatisiert: Amscha hat in ihrer Gefangenschaft Schreckliches erlebt.

Foto: El Gawhary

Ihre Finger mit den abgekauten Nägeln ziehen ständig nervös an einem Faden, der an ihrem Ärmel heraushängt. Die junge Jesidin, die von den Dschihadisten des Islamischen Staates verschleppt und in Mosul wie ein Stück Vieh für umgerechnet 12 Euro weiterverkauft wurde, streichelt über die Wange ihres Babys auf ihrem Schoss. "Das Kind und die Tatsache, dass ich ein weiteres in meinem Bauch habe, sind der einzige Grund, warum ich mich noch nicht aufgehängt habe, denn ohne mich könnten sie nicht weiterleben".

Amscha erzählt das teilnahmslos - so als würde sie nicht über sich, sondern über irgendjemand weit entfernten sprechen. Es gibt Erlebnisse, die sind zu viel für einen menschlichen Verstand und zu schwer für ein menschliches Herz. Dann schaltet dieser Mensch nach außen hin die Gefühle ab und erzählt wie eine Maschine vollkommen eintönig eine Geschichte, wärend andere noch nicht einmal beginnen können, sich vorzustellen, was dieser Mensch hinter sich gebracht hat.

Dass sie hier auf einer Matratze in einem ärmlichen jesidischen Dorf in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk sitzt und diese Geschichte überhaupt noch jemandem erzählen kann, verdankt sie ihrer wundersamen Flucht nach einem 25-tägigen Albtraum.

Als die Dschihadisten des IS begonnen hatten, ihr Dorf mit Mörsern zu beschießen, war Amscha am dritten Tag des Monats August mit einer größeren Gruppe Dorfbewohner zu Fuß geflüchtet. Vier Kilometer vor dem Dorf sahen sie zwei Fahrzeuge mit bewaffneten Männern.

"Wir dachten, es seien kurdische Peschmerga und wir seien gerettet, also liefen wir auf sie zu. Es war dunkel. Als wir die schwarzen Fahnen des IS sahen, war es schon zu spät", erinnert sie sich. Dann ging es sehr schnell. "Sie haben die Männer, die über 14 Jahre alt waren, vom Rest getrennt und haben ihnen vor unsren Augen in den Kopf geschossen, darunter auch meinem Mann, meinem Bruder, unserem Vater und Onkel", erzählt sie. "Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, aber ich erinnere mich an das Bild, als sie alle in ihrer Blutlache auf dem Boden lagen".

Die Frauen und Kinder wurden in das benachbarte sunnitisch-arabische Dorf Siwa Scheich Kahdra gebracht, darunter Amscha, ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin. Für die Dschihadisten des IS stehen die Jesiden ganz unten auf ihrer verschrobenen, religiösen Skala und die jesidischen Frauen gelten als legitime Beute im Kampf gegen die "Ungläubigen".

Ein paar Tage später wurden die Frauen und Kinder in die nicht weit entfernte Stadt Mosul gebracht, die von den IS-Kämpfern kontrolliert wird. In einem Saal hat man sie dann zusammengepfercht und wie Vieh auf einem Markt feilgeboten. Je nach Alter und Schönheit wurden die Frauen für umgerechnet sechs bis zwölf Euro verkauft. Bewaffnete IS-Kämpfer gingen im Saal umher und begutachteten die "Ware".

"Sie haben uns überall angefasst und uns das Tuch vom Kopf gerissen, manchen Frauen haben sie die Kinder weggenommen. Viele Frauen haben sie geschlagen, an den Haaren nach draußen gezogen, wenn sie sich geweigert haben mitzukommen", berichtet Amscha.

Zunächst wurde ihre Schwägerin "verheiratet". Amscha sagt tatsächlich "verheiratet", denn das Wort "verkaufen" ist zu unerträglich, als dass es über ihre Lippen kommt. Zu ihrer Schwägerin hat sie seitdem jeden Kontakt verloren. Dann kam Amscha dran. Ein Kämpfer aus Mosul kaufte sie, fesselte ihr die Arme und zerrte sie zusammen mit ihrem Kind aus dem Saal in sein Haus in der Stadt.

Insgesamt war Amscha 25 Tage mit ihrem Baby in Gefangenschaft. Im Kreise der Familie ihrer Schwester, die während des Gesprächs mit im Zimmer sitzt, führt sie nicht näher aus, was in dieser Zeit geschehen ist - nur, dass sie ständig geschlagen wurde. Immer wieder wurde ihr gedroht, sie an einen Syrer oder Saudi weiterzuverkaufen, wenn sie sich nicht gefügig zeige. Immer wieder haben sie ihr Kind mitgenommen.

Als sie dann im anderen Zimmer hinter der verschlossenen Türe gehört hat, dass man tatsächlich plane, sie an einen Syrer zu verkaufen, der sie ins syrische Raqqa bringen wolle, der inoffiziellen Hauptstadt der IS-Dschihadisten, beschloss sie zu fliehen. Einer der Männer kam in das Zimmer, gab ihr eine Tablette.

"Ich hielt die Tablette die ganze Zeit unter der Zunge. Als sie weg waren, habe ich sie ausgespuckt", erinnert sie sich. Nachts hat sie gewartet, bis ihr Baby eingeschlafen war. Sie fand eine Eisenstange im Schrank und brach leise die Türe auf. "Draußen im Hof schliefen drei der Bewaffneten. Sie fing an, zu laufen.

Vier Stunden lang ist sie durch die Straßen von Mosul geirrt, hat sich immer wieder versteckt. Schließlich sprach sie ein alter Mann an und fragte sie, was sie als Frau allein nachts auf der Straße mit dem Kind mache. In gebrochenem Arabisch, da sie zu Hause nur kurdisch gesprochen hat, vertraute sich Amscha ihm an. Der alte Mann, der - wie sich später herausstellte - eine wichtige Persönlichkeit in der sunnitisch-arabischen Gesellschaft der Stadt war, nahm die junge Jesidin zu sich nach Hause, wo er sie vier Tage lang zwischen seinen Töchtern versteckte.

"Das, was der IS anrichtet, hat nichts mit unserem Islam zu tun", entschuldigte sich ihr heimlicher Gastgeber. Am Ende heckte der alte Sunnit einen Plan aus. Erst rief er bei Amschas Schwester im kurdischen Dohuk an und erklärte, dass Amscha in Sicherheit sei, dann steckte er die Jesidin in einen Vollschleier und gab ihr den Ausweis seiner verheirateten Tochter. Zu dritt machte sich die Gruppe unter Lebensgefahr auf in die nordirakische Stadt Kirkuk, die von den Peschmerga kontrolliert wird.

Dem Grenzposten erklärte der alte Mann aus der Ferne, dass er eine junge jesidische Frau dabeihabe und diese zu seiner Familie nach Kirkuk bringen möchte und dass er versucht habe, die Übergabe mit den Peschmerga zu koordinieren.

Der Posten war informiert und telefonisch wurde einer der Verwandten, der bereits in Kirkuk wartete, herbeizitiert. Amscha wurde aufgefordert, ihren Schleier abzulegen, um von ihrer Familie identifiziert zu werden. Nach über drei Wochen Gefangenschaft und einer nervenaufreibenden Flucht war die junge Jesidin Amscha wieder eine freie, wenngleich traumatisierte Frau.

"Während der Gefangenschaft habe ich oft daran gedacht, mich umzubringen", wiederholt sie. In diesem Moment fließen dem hartgesottenen kurdischen Übersetzer und Journalisten, der oft von der Front berichtet hat, die Tränen über das Gesicht. "Ich habe mir immer wieder gesagt, ich muss dafür sorgen, dass mein Kind nicht in die Hände dieser Verbrecher fällt", sagt Amscha, "ich hatte keine Wahl, ich musste das einfach alles aushalten." Dann steht sie auf und geht in ihr Zimmer, das sie seit Wochen nur selten verlässt. Es sei ihr wichtig, sagen Amschas Verwandte zum Abschied, der Welt da draußen wenigstens ein Mal ihre Geschichte zu erzählen.

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