Juden in Frankreich "Ich werde nicht den Kopf senken"

Schon vor den Terroranschlägen litten sie unter Feindseligkeiten. Immer mehr wandern aus, doch viele wollen bleiben und in ihrem Land für Toleranz kämpfen

 Höchste Sicherheitsstufe: 4700 Einsatzkräfte sollen - wie hier die Synagoge in Lille - jüdische Schulen und Glaubensstätten in Frankreich schützen.

Höchste Sicherheitsstufe: 4700 Einsatzkräfte sollen - wie hier die Synagoge in Lille - jüdische Schulen und Glaubensstätten in Frankreich schützen.

Foto: AP

Sie mag zwar eine kleine Person sein, sagt Esther. Doch der zerbrechliche Anschein dieser Dame von fast 81 Jahren täuscht. "Ich habe gelernt zu kämpfen. Und wenn mir einer mit harten Worten kommt, dann gebe ich die zurück. Genauso hart." Meistens hören ihr jedoch die jungen Leute interessiert und bewegt zu. Seit 18 Jahren geht Esther in Schulklassen, um von ihrem Schicksal zu erzählen: Wie sie 1942 die Massenrazzia auf Juden in der Radsporthalle "Vel' d'Hiv'" in Paris überlebt hat, während ihre Eltern nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden.

"Mich wirft so leicht nichts mehr um", versichert die resolute Frau, die sich in jüdischen Vereinigungen engagiert. Aber den Freitag letzte Woche erlebte sie doch als "sehr schweren Moment". Zwei Tage nach dem blutigen Anschlag islamistischer Terroristen auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" erschoss der mit den Tätern bekannte Amedy Coulibaly in einem koscheren Lebensmittelmarkt in Paris vier Männer.

Deren Leichen wurden auf Wunsch ihrer Familien nach Jerusalem gebracht. Man beerdigte sie auf demselben Friedhof wie den Rabbiner und die drei Kinder, die der islamistische Terrorist Mohamed Merah 2012 vor einer jüdischen Schule in Toulouse erschossen hatte. Auch diese Morde entsetzten die Juden in Frankreich zutiefst. "Ich habe nicht geglaubt, so etwas noch einmal erleben zu müssen", sagt Esther. "Und ich fürchte, es ist noch nicht vorbei."

Mit rund einer halben Million Menschen zählt Frankreich die größte jüdische Gemeinschaft in Europa. Viele fühlen sich hier nicht mehr sicher, trotz der 4700 Einsatzkräfte, die künftig 717 jüdischen Schulen und Glaubensstätten im ganzen Land schützen sollen. Schon im letzten Jahr wanderten fast 7000 von ihnen nach Israel aus, mehr als doppelt so viele als im Vorjahr. Und nun wird mit noch viel mehr gerechnet.

Denn die jüngsten Anschläge erscheinen wie ein grausamer Höhepunkt, nachdem der Antisemitismus seit Jahren zunimmt. Er zeigt sich nicht nur in Pöbeleien gegenüber Männern, die die Kippa tragen, oder im Fortbestehen ewiger Klischees, wie Studien bestätigen. Auch schlug der Streit um Auftrittsverbote für den Kabarettisten Dieudonné große Wellen, der sein Programm mit antisemitischen Provokationen bestreitet. Nach der Erklärung "Ich fühle mich wie Charlie Coulibaly" in Anspielung auf den Attentäter wurde Dieudonné am Mittwoch festgenommen, es wurde ein Verfahren wegen Verherrlichung des Terrorismus gegen ihn eingeleitet.

Zudem kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu brutalen Übergriffen. Anfang 2006 entführte eine Gruppe junger Muslime, die sogenannte "Bande der Barbaren", den 23-jährigen Juden Ilan Halimi und folterte ihn wochenlang zu Tode, während sie von seiner alleinerziehenden Mutter Lösegeld zu erpressen versuchte. 2012 entsetzten die Morde des radikalen Islamisten Merah in Toulouse. Im vergangenen Mai erschoss Mehdi Nemmouche, ein aus dem Syrienkrieg zurückgekehrter Franzose, im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen. Und vor wenigen Wochen überfielen junge Männer in einem Vorort von Paris ein jüdisches Pärchen in deren Wohnung, vergewaltigten die Frau, schlugen den Mann und zwangen sie, Kreditkarten und PIN-Codes herauszugeben. Die Zahl antisemitischer Gewaltakte hat sich allein 2014 fast verdoppelt.

Die Terror-Attentate haben zwar eine starke Bewegung der Solidarität mit den Opfern ausgelöst. Premierminister Manuel Valls erklärte, wer die Juden angreife, vergehe sich am Fundament des Landes: "Frankreich ohne Juden wäre nicht mehr Frankreich." Dennoch befürchtet Esther keine schnelle Verbesserung. Auswandern kommt für sie aber nicht in Frage. Sie sei Französin und wolle in ihrem Land für mehr Toleranz kämpfen, erklärt sie. "Nach allem, was ich erlebt habe, werde ich eines nie tun: den Kopf senken."

Anschlag löst Hacker-Krieg aus

Seit den Terroranschlägen von Paris sind französische Web-Seiten Ziel massiver Hacker-Attacken. In den vergangenen vier Tagen seien 19.000 Angriffe registriert worden, berichtet die Zeitung "20 minutes" unter Berufung auf Angaben des für Cyber-Angriffe zuständigen Vizeadmirals Arnaud Coustillière. Es sei das erste Mal, dass Frankreich in diesem Umfang Ziel von Attacken im Internet ist. Auf den gehackten Seiten seien Flaggen oder islamistische Parolen platziert worden. Betroffen seien öffentliche Einrichtungen oder private Firmen bis hin zu einer Pizzeria. Genutzt würden Schwachstellen schlecht geschützter Web-Seiten.

Der IT-Sicherheitsanbieter Redware berichtet von einer Art Cyberkrieg: Während die Hackergruppe Anonymous islamistische Aktivitäten im Netz aufspüren und deren Kanäle in sozialen Netzwerken zum Absturz bringen wollen, habe die Gruppe AnonGhost einen digitalen Dschihad gegen Frankreich und Anonymous ausgerufen.

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