Viele Bürger sind von Politik enttäuscht In Sorge um die Früchte der Revolution

TUNIS · An diesem Sonntag wird in Tunesien erstmals ein reguläres Parlament gewählt.

Die Graffiti-Botschaft an vielen Hauswänden in den Armutsvierteln der tunesischen Hauptstadt Tunis ist kurz, aber eindeutig: "Bete" prangt auf bröckelnden Fassaden. Eine Aufforderung, welche die weit verbreitete Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Skepsis in Tunesien spiegelt. Unter den elf Millionen Einwohnern wächst die Sorge, dass von den Früchten des Arabischen Frühlings nicht viel übrig bleibt. "Viele Tunesier haben Angst vor der Zukunft", berichtet Emir Sfaxi, ein Blogger der jungen tunesischen Generation, in der rund 30 Prozent ohne Job sind.

Knapp vier Jahre nach Ausbruch der Revolution, mit welcher der Diktator Zine el Abidine Ben Ali verjagt wurde, bewegt sich das Land zwar Richtung Demokratie. Doch Armut, soziale Spannungen, politische Gewalt und auch religiöser Fundamentalismus unterminieren die Fortschritte. An diesem Sonntag wird erstmals ein reguläres Parlament gewählt. Der vorläufige Abschluss eines wackligen Demokratieprozesses, in dem spürbar wurde, dass auch in Tunesien die Islamisten zunehmend Einfluss gewinnen.

Die moderate islamistische Ennahda-Partei hatte bereits im seit drei Jahren existierenden Übergangsparlament das Sagen. Und es ist absehbar, dass diese religiöse Bewegung, deren Name sich mit "Wiedergeburt" übersetzen lässt, auch bei der Wahl am Sonntag eine wichtige Rolle spielen wird. Ihr Chef, der 73-jährige Geistliche Rachid Ghannouchi, erwies sich in den letzten Monaten überraschend kompromissbereit, als er nach großen Spannungen zwischen säkularen und religiösen Blöcken den Weg für eine unabhängige Interimsregierung freimachte. "Tunesien wird die erste arabische Demokratie sein", verspricht er nun.

Ennahdas größter Konkurrent dürfte die säkulare Nidaa-Partei sein, die von dem 87-jährigen Polit-Veteran Beji Caid Essebsi angeführt wird. Nidaa wirbt um Stimmen mit einer Angstkampagne gegen Ennahda, welche angeblich für Anschläge auf Andersdenkende und die Islamisierung der Gesellschaft verantwortlich sei. Der Nidaa-Wortführer Essebsi gilt freilich nicht als Vorzeigedemokrat, sondern eher als Mitläufer aus der Ben-Ali-Diktatur, wo er im Fassadenparlament saß und sogar Parlamentspräsident war.

Immerhin gelang es den Tunesiern Anfang dieses Jahres, eine Verfassung zu verabschieden, welche als beispielhaft in der arabischen Welt gilt und Glaubensfreiheit, Gleichberechtigung sowie Menschenrechte verankert. Der Islam wurde als Staatsreligion bestätigt in einem Land, in dem die meisten der elf Millionen Einwohner Muslime sind. Aber die Absicht der religiösen Bewegungen, das islamische Scharia-Recht zur Grundlage zu machen, wurde abgeschmettert.

Trotzdem wächst die Sorge, dass religiöse Fundamentalisten das Land erschüttern könnten: Kurz vor der Wahl starben beim Sturm der Polizei auf ein Terrorversteck bei Tunis sechs Menschen. Die Grenzen zum Nachbarn Libyen, wo Chaos und Gewalt regieren, wurden für die Wahlzeit abgeriegelt. Auch die Nachricht, dass tunesische "Gotteskrieger" das stärkste Auslandskontingent innerhalb der IS-Terrormilizen in Syrien und Irak stellen, sorgt für Unruhe. Daher sollen bei der Wahl mehr als 50 000 Polizisten dafür sorgen, dass bei dieser Bewährungsprobe für die Demokratie nichts schief geht.

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