„Ich habe gespürt, dass wir etwas Nützliches machen“ Interview mit Discjockey von Tschernobyl

Kiew · Mit Mitte 20 kam Alexander Demidow nach Tschernobyl, arbeitete auf der AKW-Baustelle, aber bald legte er für die Arbeiter in den Wohnheimen Platten auf. Mit ihm sprach Stefan Scholl.

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an den Reaktorunfall denken.

Demidow: Das passierte Freitagnachts. Am Samstag wussten die meisten Leute in der Stadt noch nicht, was geschehen war. Es gab Gerüchte. Und Spezialtankwagen wuschen die Straßen. Aber es wurden noch sechs Hochzeiten gefeiert, Kinder spielten auf der Straße. Allerdings fiel unsere Discothek am Sonntagabend schon aus, weil um zwei Uhr nachmittags die Evakuierung der gesamten Bevölkerung begann.

Ein paar Tage nach der Katastrophe kehrten Sie in die Zone von Tschernobyl zurück. Warum?

Demidow: Heute mag das unlogisch klingen, aber ich war sowjetisch erzogen und wollte dort sein, wo mein Arbeitsplatz ist.

Hat man Sie da erwartet?

Demidow: Nein, niemand hat mit mir gerechnet. Der Stab des Atomkraftwerks war jetzt in Polesskoje. Als ich vorschlug, ein Kulturprogramm zu organisieren, schüttelten alle zuerst den Kopf. Aber ein paar Tage später sind wir schon nach Prypjat gefahren, um die Apparatur für eine mobile Discothek zu holen. Die Haustüren waren versiegelt, die Geschäfte geschlossen, man sah Katzen und Hunde, die ihr Fell verloren. Es war, als hätte Krieg angefangen. Aber ich bin auch zu Hause gewesen, habe den Fernsehapparat geholt, weil bald die Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko begann.

Und dann veranstalteten Sie Disco in der atomaren Sperrzone?

Demidow: In Polesskoje war damals viel Volk, wir haben für die Atomschtschiki, die AKW-Techniker, und die Liquidatoren Musik gemacht. Es waren auch viele junge Frauen da, Freiwillige, die in den Küchen und Wäschereien arbeiteten, etwa 30 Prozent des Publikums war weiblich.

Wollen Leute, die gegen eine radioaktive Katastrophe ankämpfen, sich abends noch amüsieren?

Demidow: Sehen Sie hier, das Programm der Discothek im Juni 1986: 23 Tanzabende, in der zweiten Monatshälfte waren wir praktisch täglich ausgebucht. Wir spürten, dass unsere Musik für die Liquidatoren wichtig war, diese Abende halfen ihnen, sie konnten Mädchen kennenlernen, bekamen eine Dosis Optimismus.

Das klingt fast, als wäre Ihre glückliche Jugend auch in der „Zone“ weitergegangen.

Demidow: Ich habe gespürt, dass wir etwas Nützliches machen, den Menschen dort das Leben erleichtern. Wir fuhren auf die Krim und nach Odessa, wo sich die Kinder aus Pripjat erholten, filmten sie, und zeigten die Filme ihren Eltern. Die waren sehr dankbar. Und wir waren stolz, dazuzugehören, wir trugen die weißen Anzüge der Atomschtschiki, der Elite, das war cooler als die grünen Armeekluften.

Was halten sie von der angloamerikanischen TV-Serie „Chernobyl“? Viele Augenzeugen kritisieren, eine Menge Fakten seien erfunden oder verdreht.

Demidow: Ich habe die Serie zweimal gesehen, sie ist sehr emotional. Und sie macht die Gefühle, die Atmosphäre von damals wirklich wieder lebendig.

Der greise Parteiboss, der nach dem GAU im Luftschutzkeller des AKWs eine Lobrede auf den Sowjetsozialismus hält, wirkt auch sehr erfunden.

Demidow: Diese Figur symbolisiert die Kommunistische Partei, die die Katastrophe verschwieg, bis die Schweden Alarm schlugen. Der Film trifft auch den Umgang innerhalb des sowjetischen Systems, wo sich die meisten Funktionäre vor jeder Verantwortung drückten. Weil sie Angst hatten, ihr Parteibuch zu verlieren.

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