„Anschläge sind ein langfristiges Problem“ Interview mit Terrorismusexperte Peter Neumann

Was in Großbritannien passiert ist, hätte auch in Deutschland geschehen können, sagt Professor Peter Neumann. Als Gegenstrategie empfiehlt er eine Kombination aus Repression, Prävention und Integration.

Herr Professor Neumann, dieses Jahr gab es bereits einen Anschlag in Westminster, dann auf der London Bridge und jetzt am Montag in der Nähe einer Moschee in Finsbury Park. Warum trifft es immer wieder die britische Hauptstadt?

Peter Neumann: Es gab schon immer die Befürchtung, dass durch einen Anschlag weitere ausgelöst werden könnten und sich die Extreme gegenseitig hochschaukeln – dass also eine Attacke Menschen auf der „anderen“ Seite ermutigt, sich zu rächen. Für einen solchen Kreislauf der Gewalt haben wir mit dem Anschlag eines selbst deklarierten Rechtsextremen in London jetzt möglicherweise einen Indikator gesehen. Das ist natürlich eine ganz gefährliche Situation, weil solche Kreisläufe schwer zu stoppen sind. Warum das gerade in London passiert ist, darauf habe ich keine genaue Antwort. Das hätte auch in einigen anderen europäischen Städten wie zum Beispiel Paris oder Brüssel passieren können, und das kann es immer noch.

Was sind die Folgen dieser Anschlagswelle?

Neumann: Die Gefahr bei dieser dschihadistischen Welle, die Europa derzeit heimsucht, besteht nicht nur darin, dass bei den Anschlägen Menschen umkommen, sondern auch darin, dass sich unsere Gesellschaften polarisieren. Genau das beabsichtigen die Attentäter. Sie wollen das europäische Gesellschaftsmodell, das proklamiert, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion friedlich zusammenleben können, gefährden.

Was ist die richtige Reaktion auf diese Versuche zur Spaltung der europäischen Gesellschaften?

Neumann: Für die Gesellschaft geht es vor allem darum, sich bewusst zu werden, was momentan passiert, und sich der Polarisierung aktiv entgegenzusetzen. Die Bürger sollten sich von der Gewalt nicht einschüchtern lassen und sich Muslimen gegenüber nicht anders verhalten als zuvor. Man sollte vor Menschen mit einer anderen Religion und anderen Kultur keine Angst haben und versuchen, sein Leben normal zu leben.

Und der Staat?

Neumann: Für ihn gibt es natürlich Handlungsbedarf. Zum einen bei der Repression, also dabei, extremistische Gefährder, Terroristen und Hassprediger mit aller Härte des Rechtsstaates zur Rechenschaft zu ziehen. Aber eine wichtige Rolle spielen auch Prävention und Integration. Alle drei Faktoren sind unterschiedliche Seiten derselben Problematik, und sie müssen alle mit derselben Energie betrieben werden.

Der britische Rat der Muslime beklagt bereits einen zunehmenden Islamhass.

Neumann: Das ist in Großbritannien so und wahrscheinlich auch in den meisten europäischen Gesellschaften. Der Islamische Staat hat vor Kurzem in einer Ausgabe seines Online-Magazins die Strategie hinter den Anschlägen beschrieben: Es gehe darum, aufseiten der nicht-muslimischen Bevölkerung den Islamhass zu verstärken und aufseiten der muslimischen Bevölkerung eine Situation zu schaffen, in der der Islamische Staat als Verteidiger der islamischen Interessen wahrgenommen wird, also die sogenannte Grauzone zu eliminieren.

Was ist mit der „Grauzone“ gemeint?

Neumann: Darunter versteht der Islamische Staat im Prinzip das europäische Gesellschaftsmodell, die Idee, dass wir nicht allein durch unsere Religion definiert sind und dass zum Beispiel Islam und Demokratie miteinander kompatibel sind. Dieses Gefühl zu eliminieren und diese Grauzone wegzubekommen, ist die Absicht des Islamischen Staates. Und leider, so kommt mir das manchmal vor, ist das auch die Absicht der Populisten. Denn das Falscheste, was man nach diesen Anschlägen jetzt machen kann, ist es, dem Islam den Krieg zu erklären. Das schießt weit über das Ziel hinaus.

Sie leben in London. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Stadt wahr?

Neumann: Die ist durchaus widersprüchlich. Auf der einen Seite geht das normale Leben weiter. Aber wenn man mit Menschen spricht, merkt man, dass es eine gewisse Angst und viele Fragen gibt. Außerdem ist eine größere Skepsis gegenüber dem Islam spürbar. Mit diesen Ängsten muss man sich offensiv beschäftigen. Dabei ist es wichtig, dass sich auch Muslime und muslimische Gemeinschaften offensiver damit auseinandersetzen und nicht einfach nur sagen: Das ist Rassismus und schlimm.

Die drei Londoner Anschläge wurden alle mit Fahrzeugen begangen. Wie begegnet man dem?

Neumann: Vor vielen Theatern, Kinos oder anderen Veranstaltungsorten werden jetzt Sperren aufgestellt, Gitter, die verhindern sollen, dass ein Terrorist mit einem Auto zum Beispiel in diese Veranstaltungsorte hineinfahren kann. Das ist leider die neue Normalität im Stadtbild. Ich befürchte, dass das früher oder später auch in Deutschland der Fall sein wird.

Die britische Gesellschaft stand in den vergangenen Monaten nicht nur im Fokus der Terroristen. Auch der Londoner Hochhausbrand erschütterte die Menschen. Diese Woche sind nun auch die Brexit-Verhandlungen gestartet...

Neumann: Vor einem Jahr hat ein sehr selbstbewusstes Großbritannien die Entscheidung für den Brexit getroffen, weil man mit diesem chaotischen Europa nichts mehr zu tun haben wollte. Die Situation hat sich jetzt umgedreht. Europa, oder zumindest große Teile davon, wirken relativ stabil und Großbritannien ist das chaotische Land, wo jede Woche etwas Neues passiert. Natürlich schafft das in der Bevölkerung Verunsicherung.

Und klare und einfache Antworten gibt es nicht.

Neumann: Die Sache mit dem Brexit wird sich noch über Jahre hinziehen und es ist überhaupt nicht absehbar, dass Großbritannien mit einem großen Vorteil aus dieser Situation herauskommen wird, ganz im Gegenteil. Und für Premierministerin Theresa May gibt es auch kein einfaches Patentrezept, mit dem sie die Anschläge abstellen könnte. Die Welle der dschihadistischen Anschläge ist ein Problem, das alle europäischen Staaten betrifft, auch Deutschland. Auf lange Sicht werden Frankreich und Belgien wahrscheinlich noch stärker betroffen sein als Großbritannien.

Warum?

Neumann: Dort sind die Zahlen der Radikalisierten noch viel höher und die sozialen Bedingungen durch die Ghettobildung bestimmter Einwanderergruppen noch problematischer. Die beiden Staaten sind bei der Terrorismusbekämpfung außerdem noch schlechter aufgestellt als Großbritannien. Hinzu kommt, dass wir in den nächsten Jahren mit Rückkehrern aus Syrien und dem Irak zu rechnen haben, also Islamisten, die beim Islamischen Staat waren. Die Zahl derjenigen, die dort hingefahren sind, ist in Frankreich viel höher als in Großbritannien.

Sie haben also keine Hoffnung, dass die Anschlagswelle bald abebben könnte?

Neumann: Nein. Diese Welle der Anschläge ist ein mittel- und langfristiges Problem für ganz Europa. Wir sind da noch nicht einmal in der Mitte angelangt. Und auch wenn sich das momentan in Großbritannien konzentriert, ist es wichtig, dass sich jedes europäische Land systematisch, konsequent und langfristig dem Problem widmet. Denn das, was in Großbritannien passiert ist, hätte so oder ähnlich auch in Deutschland passieren können.

Was muss in Deutschland getan werden, um dies zu verhindern?

Neumann: Ich denke, wir brauchen in Deutschland eine konsequente und systematische Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Strategie, die die verschiedenen Elemente Repression, Prävention und Integration koordiniert und miteinander abstimmt. So etwas gibt es leider noch nicht, obwohl große Fortschritte gemacht wurden. Das war auch der Grund, weshalb ich dem designierten nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) zugesagt habe, bei der Kommission mitzumachen, die er nach seiner Wahl als Regierungschef einsetzten möchte.

Sie meinen die Bosbach-Baum-Kommission...

Neumann: ...bei der es darum geht, langfristig die Sicherheitsarchitektur neu aufzustellen, um sich auf diese Gefahr, die uns noch jahrelang begleiten wird, einzustellen. Dort will ich meine Erfahrungen aus der internationalen Terrorismusbekämpfung und -prävention einbringen. Ich hoffe, dass wir das dann irgendwann im ganzen Land machen können. Aber NRW ist schon einmal ein guter Anfang.

Planen Sie aufgrund des Brexits vielleicht auch langfristig eine Rückkehr nach Deutschland?

Neumann: Nein, ich glaube nicht, dass ich aus Großbritannien rausgeschmissen werde, und ich habe keine Absicht, das Land zu verlassen oder meine Zukunft aufgrund des Brexits ganz zu ändern.

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