Kommentar zur Situation in der Türkei Kein Befreiungsschlag

Meinung · Die Gemengelage ist kompliziert, vor allem für den türkischen Präsidenten. Recep Tayyip Erdogan fühlt sich von Feinden umzingelt - für rechtsstaatliche Verhältnisse und die Beziehungen zur EU heißt das nichts Gutes, kommentiert Susanne Güsten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan steht vor einem Dilemma. Er will den Ausnahmezustand in seinem Land beenden, ihn gleichzeitig aber in wichtigen Teilen per Gesetzesänderung wieder einführen. Einerseits möchte Erdogan zwei Jahre nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wieder zu einer gewissen Normalität zurückkehren, besonders mit Rücksicht auf die Wirtschaft. Andererseits aber will Erdogan den Druck auf tatsächliche oder angebliche Gegner seiner Regierung aufrechterhalten. Beides geht nur schwer zusammen.

Eine wirkliche Rückkehr zu normalen rechtsstaatlichen Verhältnissen kommt für Erdogan nicht infrage. Der Präsident fühlt sich von inneren und äußeren Feinden umringt, die nach seiner Ansicht nur auf ein Zeichen der Schwäche warten, um einen neuen Umsturzversuch zu starten. In der Weltsicht, die sich nach dem Schock des Putschversuches in den vergangenen zwei Jahren in Regierungszirkeln in Ankara durchgesetzt hat, erscheinen demokratische Zustände wie in westlichen Staaten als gefährlicher Luxus, den sich die Türkei nicht leisten kann.

Das dürfte nicht nur demokratische Reformen bremsen, sondern auch eine Entspannung im Verhältnis zur EU schwierig machen. In Ankara herrscht mittlerweile ein so tiefes Misstrauen dem Westen gegenüber, dass Reformforderungen aus Brüssel nicht mehr als Ansporn, sondern als unangebrachte Einmischung und als Versuch zur Schwächung der Türkei empfunden werden. Die Aufhebung des Ausnahmezustandes ist deshalb nicht der Befreiungsschlag, den die türkisch-europäischen Beziehungen dringend benötigen.

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