GA-Interview zur Zukunft Syriens Kinan Jaeger: "Syrien wird zerbrechen"

Bonn · Der Bonner Politologe Kinan Jaeger fordert einen Aufbauplan für die Kriegsregion. Initiieren soll ihn die Nation mit dem höchsten Vertrauenskapital: Deutschland.

 Zerstörte Städte, hungernde Kinder, Flüchtlingsströme: die Auswirkungen des Krieges sind enorm.

Zerstörte Städte, hungernde Kinder, Flüchtlingsströme: die Auswirkungen des Krieges sind enorm.

Foto: dpa

In London treffen sich am 4. Februar Vertreter aus 70 Nationen zu einer Geberkonferenz für das vom Krieg zerrissene Syrien. Dort sollen Gelder für das Land sowie humanitäre Hilfe für Syriens Nachbarländer mobilisiert werden, die einen großen Teil der Flüchtlinge aufgenommen haben. Für den Bonner Politikwissenschaftler und Syrien-Experten Kinan Jaeger greift eine solche Geberkonferenz allerdings zu kurz. Er fordert einen „Marshall-Plan“ für den gesamten Nahen Osten. sprach mit ihm.

Die internationale Gemeinschaft will in zwei Wochen Hilfen für Syrien locker machen. Wie viel bringt es, ein paar Millionen Euro und einige Tonnen Hilfsgüter in ein Kriegsgebiet zu entsenden?
Kinan Jaeger: Ich bin skeptisch. Leider sind viele Hilfsgelder, die auf der letzten Syrien-Konferenz versprochen wurden, gar nicht geflossen. Es ist nicht einfach, in Syrien die richtigen Empfänger zu finden, solange an allen Fronten gekämpft wird. Hilfsprogramme wirken zur Zeit nur punktuell – wie im Falle der Rettung ausgehungerter Menschen von Madaja. Was Syrien braucht, ist zunächst ein Waffenstillstand. Dann muss ein umfassendes Aufbauprogramm konstruiert werden. Beides erfordert die Mithilfe der großen Mächte, die von Außen auf den Konflikt einwirken. Damit meine ich nicht nur die USA oder Russland, sondern auch regionale Akteure wie den Iran, Saudi-Arabien und die Türkei.

Wie hoch stehen die Chancen, unter den jetzigen Bedingungen einen Waffenstillstand herbeizuführen?
Jaeger: Der Druck im Kessel des syrischen Bürgerkrieges ist hoch. Viele Rechnungen werden noch beglichen – zwischen dem Regime und der Opposition sowie verfeindeten Religions- und Volksgruppen. Viele Minderheiten kämpfen mit dem Rücken zur Wand. Sie können es sich nicht leisten, nachzugeben. Andere werden von außen befeuert, weiterzukämpfen. Ihr strategisches Ziel ist, am Tag der Verhandlungen bestmögliche Positionen zu halten. Das gilt nicht nur für den IS. Nehmen Sie etwa die Kurden: Im Norden Syriens geht es für sie um Ölfelder, Pipelines, einen Zugang zum Mittelmeer und den eigenen Staat. Im Westen kämpft die Hisbollah im Auftrag Irans um mehr Einfluss für die Schiiten. Sie alle sehen jetzt ihre große Stunde gekommen. Warum sollten sie jetzt, auf halbem Wege zum Ziel, einem Waffenstillstand zustimmen?

Sie sind Befürworter eines „Marshall-Planes“ für den gesamten Nahen Osten. Wie könnten diese Aufbauhilfe aussehen?
Jaeger: Ziel eines Aufbauplanes muss sein, den Menschen in ihrer Heimat eine besser Zukunftsperspektive zu bieten. Er bestünde aus wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Komponenten. Kernelement ist eine Freihandelszone für den Mittelmeerraum. Für alle Anrainer müssten Zölle und juristische Barrieren abgebaut werden, es gäbe dann freien Waren- und Reiseverkehr. Es geht nicht nur um den Ausbau von Infrastruktur wie Häfen und Straßen – interessant wären auch Investitionen etwa in den Tourismus oder zur Gewinnung von Wüstenstrom für die EU. Zu prüfen wäre auch, ob das Anwerben günstiger Arbeitskräfte aus dem arabischen Perspektiven für beide Seiten Vorteile bietet. Dafür bedarf es aber zunächst politischer Stabilität.

Wenn man überlegt, wie viel der deutsche Aufbau Ost gekostet hat – und die Dimensionen sind kleiner als im Nahen Osten – und wie groß die Kritik am Solidarbeitrag ist, dann stellt sich die Frage: Wer soll Mittel für den Aufbau Nahost bereitstellen?
Jaeger: Die EU wird wohl die Hauptlast tragen müssen. Sie würde aber auch am meisten profitieren, weil sie die Konsequenzen der Krisen in ihrer Nachbarschaft derzeit am deutlichsten spürt. Von den USA wird hier im anstehenden Wahlkampf nicht viel zu erwarten sein. Auch mit den arabischen „Bruderstaaten“ ist nicht zu rechnen. Sie haben Angst, Menschen aus ihren Nachbarländern aufzunehmen, weil sie politische Unruhen und Veränderungen im eigenen Land befürchten.

Macht ein Aufbau-Plan für den Nahen Osten den Westen sicherer?
Jaeger: Ich denke schon. Mehr Sicherheit für die Menschen im Nahen Osten bringt auch mehr Sicherheit für uns. Der Druck auf Europa, vor allem die Flüchtlingsbewegung, würde nachlassen. Steigt die Lebensqualität, würden auch radikale Überzeugungen, wie die des IS, klar an Boden verlieren. Das alles wird natürlich viel Geld kosten. Unsere Sicherheit ist nicht zum Null-Tarif zu haben. Militäreinsätze sind allerdings noch deutlich teurer. Stellen Sie sich vor, die USA hätten nur einen kleinen Teil der Ausgaben für den Irak-Krieg in einen Aufbau-Plan in Nahost investiert. Dann gäbe es in der Region längst Frieden und der Westen wäre hoch angesehen.

Sie sprachen von einer sozialen Komponente für den Aufbauplan im Nahen Osten ...
Jaeger: Mir geht es dabei vor allem darum, gegenseitige Vorurteile abzubauen und vertrauensbildende Maßnahmen zu schaffen. Die Menschen im Nahen Osten sollten erfahren, wie westliches Denken angelegt ist. Mehr Internet-Anschlüsse, mehr westliche Nachrichten in arabischer Sprache, mehr Stipendien, Schüleraustauschprogramme, Städtepartnerschaften, gemeinsame Sportveranstaltungen – all das gehört dazu. Wichtig wäre auch, durch Einfluss auf den Schulunterricht, Lehrmaterial und Computerprogramme besonders junge Menschen zu erreichen und sie vor Radikalisierung zu schützen. Genau hier sehe ich im Übrigen eine Riesenchance für Flüchtlinge, die zurzeit bei uns leben. Wir müssen sie mobilisieren, später in ihrer Heimat als Lehrer westliche Ideen zu vermitteln. Deutschland könnte hier eine besondere Aufgabe wahrnehmen.

Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands bei einem solchen Aufbau und Friedensplan?
Jaeger: Deutschland genießt einen exzellenten Ruf im Nahen Osten, vor allem in Syrien! Denn wir haben – anders als Frankreich und Großbritannien – in der Region keine koloniale Last zu tragen. Vergessen wir auch nicht die lange Tradition deutscher Wirtschaftshilfe für den Nahen Osten – angefangen mit dem Bau der Bagdad-Bahn, dem Besuch Kaiser Wilhelms bis hin zur Entwicklungszusammenarbeit der DDR in Syrien. Dort ist bis heute nichts davon in Vergessenheit geraten. Wir sind in Syrien geradezu prädestiniert, zu vermitteln und den Wiederaufbau zu begleiten. Gleichzeitig haben wir gute Kontakte zu Israel, zur Türkei und zum Iran. Deutschland besitzt viel Vertrauenskapital in Nahost und wird als Größe wahrgenommen. Bisher sind wir weit hinter unseren Möglichkeiten zurückgeblieben. Es ergeben sich gerade jetzt große Chancen.

Wie soll Deutschland sich jetzt einbringen?
Jaeger: Deutschland hatte bereits als Mitglied der „Freunde Syriens“ eine führende Rolle beim Aufbau der Opposition inne. Jetzt, durch die Aufnahme vieler syrischer Flüchtlinge, haben wir im Nahen Osten einmal mehr an Popularität gewonnen. Die Flüchtlinge von heute sind die Entscheidungsträger Syriens von morgen. Man könnte sie zielorientiert am Wiederaufbau beteiligen. Eines steht fest: Der Tag des Wiederaufbaus für Syrien wird kommen. Deutschland sollte darauf optimal vorbereitet sein.

Angenommen, eine übergeordnete, militärische Kraft sichert in Syrien einen Waffenstillstand – wie schafft man es, Russland mit seinen eigenen geopolitischen Interessen in Syrien am Verhandlungstisch versöhnlich zu stimmen?
Jaeger: Das ist nur machbar, indem der Westen Wladimir Putin in Aussicht stellt, Sanktionen gegen Russland abzuschwächen. Das geht, um es deutlich zu sagen, zu Lasten der Ukraine. Doch ohne Zugeständnisse würde Putin einem Abkommen für Syrien kaum zustimmen. Zweifellos wird er auch auf dem Fortbestehen der russischen Marinebasis bei Tartous bestehen.

Wie sieht Syrien in zehn Jahren aus?
Jaeger: Das Land in den bisherigen Grenzen ist nicht zu halten. Syrien wird zerbrechen. Ein Teil des Territoriums wird wohl an die Kurden gehen, die seit Jahrzehnten für ihren eigenen Staat kämpfen. Die Küstenregion, Damaskus, Latakia und Homs bleiben vielleicht in den Händen des Assad-Regimes. Die Zentralregion – wo heute der IS Kontrolle ausübt – wäre sunnitischer Herrschaft unterworfen. Möglich ist, dass auch Drusen und Christen sich abspalten. Ich befürchte eine Balkanisierung Syriens. Dies ist ein hohes geopolitisches Risiko, so nah an der Außengrenze der EU, an Israel, am Nato-Territorium und an den Energiequellen der Golfregion.

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