Junge Israelis zieht es nach Deutschland Lieblingsziel Berlin

Tel Aviv/Berlin · 70 Jahre nach dem Holocaust zieht es junge Israelis zum Leben und Arbeiten in die Bundesrepublik, vor allem in die Hauptstadt. Das löst im jüdischen Staat heftige Diskussionen aus. Naor Narkis berät seine Landsleute bei der Auswanderung.

Mit Kippa vor dem Brandenburger Tor in Berlin: Die Bundeshauptstadt liegt bei jungen Israelis im Trend.

Mit Kippa vor dem Brandenburger Tor in Berlin: Die Bundeshauptstadt liegt bei jungen Israelis im Trend.

Foto: dpa

Ursprünglich hatte er nicht damit gerechnet, einen solchen Zuspruch zu erfahren. Begonnen hatte alles mit einem Schokopudding. Von Aldi. In Israel ist dieses Dessert inzwischen legendär, nicht nur als beliebte Nachspeise. "Milky", wie das Produkt mit der Sahnehaube in Israel heißt, steht als Symbol für den Streit um Gehen oder Bleiben.

Entzündet hat sich die Debatte an dem Israeli Naor Narkis. Der 26-Jährige hatte von Berlin aus eine Facebook-Seite eröffnet, auf der er berichtete, dass die Lebenshaltungskosten dort so viel billiger als in Israel seien. "Leute, zieht nach Berlin! Ein Schokopudding kostet hier gerade mal ein Drittel so viel wie bei uns", schrieb er dort und postete einen Kassenbon von Aldi in Berlin-Wedding. "Olim le-Berlin" - "Wir wandern nach Berlin aus", heißt die Seite, die es seit letztem Herbst auf 24 000 Follower gebracht hat. In Narkis' Heimat brach ein Sturm der Entrüstung los: Wie konnte ein Israeli, ein Jude, zur Auswanderung ins Land der Täter aufrufen, 70 Jahre nach dem Holocaust?

In israelischen Medien ist es still um Narkis geworden, er will keine Interviews geben. Für eine deutsche Zeitung macht er eine Ausnahme. "Ich habe wirklich Angst vor körperlichen Angriffen", erzählt der Hauptmann der Reserve, der sechs Jahre in einer Geheimdiensteinheit der Armee diente. Sechs Monate verbrachte er vergangenes Jahr in Berlin, im Herbst kehrte er nach Israel zurück. Nicht reuevoll, wie viele vermuteten, sondern voller Energie.

Narkis, in Cargohose und derben Boots, ist freier Unternehmer geworden: Auf Versammlungen in Jerusalem, Beerschewa, Tel Aviv und Haifa spricht er darüber, was bei einer Auswanderung zu beachten ist, welche beruflichen Fähigkeiten besonders gesucht werden und was man tun kann, wenn man keinen europäischen Zweitpass besitzt.

Narkis hilft Israelis in Deutschland

Inzwischen tritt er dreimal in der Woche auf. Er hat Lehrkräfte für Deutschkurse angestellt, die schnell ausgebucht sind. "Ich informiere auch über die Auswanderung nach Australien oder Kanada. Aber das Lieblingsziel der Israelis ist Deutschland." Vor allem Berlin ist angesagt, manche Beobachter haben einen regelrechten Berlin-Hype ausgemacht.

Kürzlich hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem Narkis zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, um mit ihm über seine Motive zu sprechen. Der Soziologe Oz Almog von der Universität Haifa bezeichnete in der Runde die Auswanderungswilligen als naiv. Er führte den "Happiness-Index" der New Yorker Columbia University an. Da liege Israel auf Platz elf, Deutschland nur auf Platz 26. "Berlin ist sicherlich eine wunderbare Stadt, tolerant gegenüber Schwulen, ganz wie Tel Aviv." Aber die Stadt sei nicht Deutschland, und wer als Jude dorthin komme, habe eben auch seine schmerzvollen Erinnerungen.

Die Historikerin Fania Oz-Salzberger hat einmal von ihrem Vater Amos Oz berichtet, der mit seinen 75 Jahren schon so oft auf Schriftstellerreisen in Deutschland war. "Tagsüber geht es ihm gut. Aber nachts kann er nicht ruhig schlafen. Bei mir ist das ganz anders. Ich schlafe immer wunderbar", erzählt die Wissenschaftlerin, die vor 15 Jahren für ihr Buch "Israelis in Berlin" ein Jahr in der Hauptstadt gelebt und recherchiert hat. "Für diese jungen Israelis lebte der Holocaust nicht in Berlin, sondern in Auschwitz." Sie seien dort vor allem auf Spurensuche, was vom Vorkriegs-Deutschland geblieben sei.

"Warum bist du überhaupt hier?"

Aus dem Publikum schallt es Narkis entgegen: "Warum bist du überhaupt hier?" Die Knesset-Abgeordnete Alisa Lavi von der liberalen "Jesch Atid"-Partei bittet eine junge Frau auf das Podium, die ursprünglich aus Russland über Deutschland nach Israel einwanderte. In ihren zwölf Jahren in Köln, sagt diese Jüdin aus, habe sie die Deutschen oft als materialistisch empfunden: "Haus, Auto, Job sind das Einzige, was für sie zählt." Wegen der ideellen Werte sei sie nach Israel ausgewandert.

Narkis sagt im Interview, dass es ja nicht nur das teure Leben in Israel sei, warum die Menschen weg wollten. "Alle zwei Jahre haben wir einen Krieg. Nicht jeder will immerzu kämpfen. Israels Regierungen haben keine Antwort darauf." Nach den jüngsten Parlamentswahlen sei alles nur schlimmer geworden: "Das Land rückt immer weiter nach rechts. Die Nationalisten und Religiösen bestimmen die Politik. Kein öffentlicher Nahverkehr am Schabbat - das kann sich niemand in Deutschland vorstellen. Israelis kriegen einen Schock, wenn sie in Berlin sehen, dass Busse und Bahnen am Sonntag fahren."

Keine Angst vor Antisemitismus

Hat Narkis Angst vor Antisemitismus in Europa? In Deutschland habe er noch keine negativen Erfahrungen gemacht, sagt er, der sich sein Leben zwischen Tel Aviv, Paris und Berlin aufteilt. In Frankreich sei das etwas anders. "Ich erzähle Israelis, dass sie sich von der Idee freimachen sollen, immer ein potenzielles Opfer zu sein. Ich sage auch, dass sie in Deutschland als Individuum überall akzeptiert werden. Sie repräsentieren ja nicht den Staat Israel."

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