Affäre um Ex-Premier Edward Heath Missbrauchsskandal erschüttert die Insel

LONDON · Die Polizei wählte für ihre Pressekonferenz einen Ort aus, dessen prachtvolle Größe allein viel über die Ausmaße der Untersuchungen aussagt. Vor dem herrschaftlichen Anwesen des ehemaligen britischen Premierministers Sir Edward Heath stand der Beamte und berichtete von den schier unfassbaren Anschuldigungen.

 Ein Premierminister als Täter? Der 2005 verstorbene Edward Heath 1989 im Garten seines Hauses in Salisbury.

Ein Premierminister als Täter? Der 2005 verstorbene Edward Heath 1989 im Garten seines Hauses in Salisbury.

Foto: ap

Der Ex-Regierungschef, von 1970 bis 1974 im Amt, soll Jungen missbraucht haben. Und wie bereits in den zahlreichen Missbrauchsfällen, die in den letzten Jahren die Insel erschüttert haben, soll auch der 2005 verstorbene prominente Politiker von den zuständigen Behörden gedeckt worden sein.

Doch der Skandal wäre, sollten sich die Anschuldigungen bewahrheiten, ungleich größer. Immerhin hat das Thema nun die Downing Street erreicht. Der Polizeichef aus der Grafschaft Wiltshire hatte Anfang der Woche mögliche Zeugen und Opfer "eines Verbrechens oder sexuellen Übergriffs von Sir Ted Heath" aufgerufen, sich zu melden. "Eine Reihe von Anrufe" sei danach eingegangen, bestätigte die Behörde.

Dabei ist sie nicht die einzige, die Untersuchungen durchführt. Mittlerweile laufen Ermittlungen gegen den lebenslangen Junggesellen in fünf Grafschaften. Neben Wiltshire, London, Kent und der Kanalinsel Jersey bestätigte gestern die Grafschaft Hampshire, dass sie Vorwürfen gegen den ehemaligen Parteivorsitzenden der konservativen Tories nachgehe.

Davon gibt es offenbar genug, will man den Medien im Königreich glauben. Ein 65-Jähriger behauptet, so schreibt der "Telegraph", er sei 1961 als zwölfjähriger Strichjunge von dem Abgeordneten Heath in dessen Wohnung vergewaltigt worden. Als der Jugendliche kurz danach Sozialarbeitern von dem Missbrauch erzählte, sei er als "Lügner und Fantast" abgestempelt worden.

Auch anderen Vorwürfen wurde nie nachgegangen. So habe eine Frau, die ein illegales Bordell führte und vor Gericht gestellt werden sollte, in den 90er Jahren gedroht, im Falle einer Anklage gegen Heath auszusagen. Angeblich ließ man daraufhin von ihr ab.

Jetzt aber soll alles aufgearbeitet werden. Keiner werde verschont, heißt es immer wieder, auch nicht das Establishment. Die Regierung hat einen Ausschuss unter Vorsitz der neuseeländischen Richterin Lowell Goddard eingesetzt. Die Ermittlungen zu Edward Heath werden von der unabhängigen Untersuchungskommission IPPC geleitet.

Es ist eine beispiellose Ermittlungsreihe, die der britische Staat mit rund 18 Millionen Pfund unterstützt. Die Fälle durchziehen die höchsten Kreise, und die Vorwürfe gegen einflussreiche Politiker stellen lediglich einen Teil des Gesamtproblems um Kindesmissbrauch im Königreich dar. Mittlerweile werden alle Gesellschaftsschichten durchkämmt: Die Kirche und Justiz, Krankenhäuser, das Parlament, das Showbusiness, die Polizei.

Nicht nur kam erst im vergangenen Jahr heraus, dass im nordenglischen Rotherham über 16 Jahre lang mindestens 1400 Kinder Opfer von Sexualstraftätern wurden - vergewaltigt, geschlagen, zur Prostitution gezwungen und versklavt. Auch in der Hochglanzwelt der Promis wurde es gruselig, sobald das Scheinwerferlicht aus war. Viele Vergehen liegen lange zurück, begonnen hat die juristische Aufarbeitung erst spät im Zuge der Ermittlungen um den mittlerweile verstorbenen Star-Moderator Jimmy Savile, der über Jahrzehnte hunderte Kinder und Erwachsene missbrauchte und sich sogar an Leichen vergangen haben soll. Mit ihm an Bord soll Medien zufolge der begeisterte Segler Edward Heath sogar schlüpfrige Törns unternommen haben.

Medien kritisieren, dass die britische Kultur der Zurückhaltung und Höflichkeit ihren Teil zu dem Skandal beigetragen hat. Zahlreiche Opfer gingen zur Polizei, doch sie fanden kaum Gehör. Die Bedeutung der Aufarbeitung zeigen ihre Ergebnisse. Doch angesichts des Ausmaßes und der Anzahl der involvierten Ermittler kann damit gerechnet werden, dass der britischen Öffentlichkeit zahlreiche weitere schreckliche Enthüllungen bevorstehen.

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