Mit Hurra in die Katastrophe

Christopher Clarks brillante Untersuchung über den Ersten Weltkrieg stellt die Schuldfrage neu.

Tatort Sarajevo. Der 28. Juni 1914 beginnt mit einem prächtigen Morgen. Der Konvoi mit Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie Chotek von Chotkowa und Wognin im offenen Wagen fährt durch die von einer Menschenmenge gesäumten Straßen.

Was der habsburgische Thronfolger offenbar nicht ahnen kann und die Sicherheitskräfte vor Ort trotz eindeutiger Warnungen vollkommen ignorieren: Sieben in zwei Zellen organisierte Terroristen, bewaffnet mit Pistolen und je einer Bombe um die Hüfte, lauern in der Menge. Sie haben Zyanidkapseln dabei, um sich im Fall einer Entdeckung selbst zu vergiften.

Ausgelassene Stimmung beim Monarchenpaar, höchste Nervosität bei den Terroristen, die Gelegenheit um Gelegenheit für einen Anschlag verpassen. Bis der Serbe Gavrilo Princip den idealen Augenblick für das Attentat erwischt und ausgerechnet an der Franz-Joseph-Straße auf das Thronfolgerpaar feuert. Beide, Franz Ferdinand und sein "Sopherl" sterben bei dem Anschlag.

Der australische Historiker Christopher Clark schildert dieses Ereignis wie ein Thriller, fängt die Atmosphäre ein, wechselt Perspektiven. Unweigerlich fühlt man sich an Oliver Stones Film "JFK" erinnert. Clark selbst stellt die Beziehung zwischen den Schüssen von Sarajevo und dem Attentat auf John F. Kennedy ein halbes Jahrhundert später in Dallas her als "Ereignis, dessen heißes Licht die Menschen und Orte eines Augenblicks erfasste und sich ins Gedächtnis einbrannte."

Vier Wochen nach den Schüssen in Sarajevo nimmt die häufig als "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnete Entwicklung mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien ihnen Lauf. Ende des Jahres verbringen etwa die Deutschen Soldaten trotz gegenteiliger Versprechungen das Weihnachtsfest nicht bei den Lieben unterm Baum, sondern im Schützengraben. Mehr als 15 Millionen Menschen verlieren bis 1918 im Ersten Weltkrieg ihr Leben.

Der Anschlag auf das österreichische Thronfolgerpaar gilt als Initialzündung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Clark, der kein Freund kurzer und allzu simpler Kausalketten ist, erhebt in seinem brillanten Buch "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" Einspruch. Zumindest hat er sein spannendes Kapitel über das Attentat etwa in die Mitte des fast 900 atemlose Seiten zählenden Werks gerückt, nicht an den Anfang.

Dort steht der bestialische Mord an dem serbischen Monarchen Alexander und seiner Frau 1903 durch putschende Offiziere. In Serbien brodelt es, im Untergrund formiert sich die "Schwarze Hand", mit der später auch der Sarajevo-Attentäter Princip Kontakt hatte. Die Balkankriege 1912/13 aktivieren bereits die Bündnisblöcke - eine Art Generalprobe für die Reaktionskette ab August 1914.

Insbesondere Russland und Frankreich hätten, so Clark, den serbischen Nationalismus beflügelt und an der österreichisch-serbischen Grenze eine "geopolitische Zündschnur" gelegt. Waren die Serben die wahren bösen Buben im Konflikt? Clark sieht das so, geht sogar so weit zu behaupten, dass die serbische Politik vom Plan der 1914-Attentäter gewusst habe. Von verschiedenen Seiten ist der Autor dafür kritisiert worden.

Wie dem auch sei: Clark lässt sich in seinem breit gelobten Buch von einer interessanten Fragestellung leiten. Nicht das Warum beschäftigt ihn hauptsächlich, also "Warum ist es zum Ausbruch des Krieges gekommen?", was Ursache und Wirkung in einen engen Zusammenhang stellt und auch ziemlich früh zur Schuldfrage käme. Clark fragt nach dem Wie, denn es geht ihm primär um die höchst komplexen Interaktionen der Mächte.

Er versucht, "die Julikrise 1914 als ein modernes Ereignis zu verstehen". "Der Ausbruch des Krieges war der Höhepunkt in einer Kette von Entscheidungen, die von politischen Akteuren mit bewussten Zielen getroffen wurden", schreibt er und nimmt den Leser mit zu den politischen Zentren Europas. Man sitzt förmlich am Tisch der Entscheider.

Die Anatomie des Konflikts: Nach dem Attentat durch serbische Nationalisten greift Österreich-Ungarn Serbien an - Clark fragt sich hier, ob Wien ein moralisches Recht auf Vergeltung hatte; Serbiens Verbündeter Russland erklärt Österreich-Ungarn den Krieg; Deutschland gibt den Habsburgern einen "Blankoscheck" und macht gegen Russland mobil; worauf Frankreich als Verbündeter Russlands eingreift und England Frankreich zur Seite springt.

So logisch diese Kette aufeinanderfolgender Bündnisfälle zunächst klingt, Clarks Forschungen zeichnen das Bild eher brüchiger Bündnisse und fehlerhafter Analysen der jeweils Alliierten: Der Krieg sei "alles andere als unvermeidlich" gewesen, meint Clark. Für ihn bestand die fatale Fehleinschätzung etwa der deutschen Diplomatie darin, dass man es auf dem Balkan mit einem rein lokal begrenzten Konflikt zu tun haben würde.

Heiß umstritten ist seit jeher das Thema der Schuld am Ausbruch dieses ersten modernen Massenvernichtungskriegs. Clark nimmt in der Diskussion eine nicht unumstrittene Position ein: Für ihn ist das Kaiserreich ebenso schuldig oder unschuldig am Ausbruch wie die beteiligten Großmächte Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn und England. In deutschen Geschichtsbüchern liest man noch heute von der Schuld der Deutschen - seit den sechziger Jahren und den Forschungen Fritz Fischers ("Griff nach der Weltmacht") gilt das als ausgemacht. Clark sieht das anders und zieht damit Kritik auf sich.

Clark gehe "zu verständnisvoll, ja geradezu nachsichtig" mit der deutschen Vorkriegspolitik um, habe die Neigung, "die Reichsleitung vor ihren Kritikern in Schutz zu nehmen", monierte unlängst der Historiker und Hitler-Biograf Volker Ullrich in der "Zeit". Für Ullrich gab es während der Julikrise 1914 starke Kräfte im deutschen Militär, die für einen Präventivkrieg gegen das immer stärker werdende Russland plädierten.

Auch bei einem anderen Aspekt will Ullrich die Deutschen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen: Das Reich allein habe den Schlüssel zur Deeskalation gehabt, Berlin hätte Wien vor dem Krieg gegen Serbien abhalten können. Aber Berlin tat nichts, ganz im Gegenteil. Durch den "Blankoscheck" habe das Reich den Bündnispartner erst ermutigt und trage "tatsächlich die Hauptverantwortung für die Auslösung der Katastrophe".

Info:
Christopher Clark,
Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.
DVA, 895 Seiten, 39,99 Euro

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