Konflikt um syrische Region Idlib Präsident Erdogan bittet Merkel und Macron um Hilfe

Istanbul · Türkischer Präsident hofft auf Unterstützung durch Deutschland und Frankreich im Konflikt um Idlib. Russland wirft Ankara Unterstützung von Extremisten vor. Hilfsorganisationen sprechen von „Holocaust“.

 Von der Türkei unterstützte Rebellen bringen bei Neirab in der Provinz Idlib ihre Waffen in Stellung. Der Konflikt zwischen Russland und der Türkei um die Entwicklung in dem Konflikt spitzt sich zu.

Von der Türkei unterstützte Rebellen bringen bei Neirab in der Provinz Idlib ihre Waffen in Stellung. Der Konflikt zwischen Russland und der Türkei um die Entwicklung in dem Konflikt spitzt sich zu.

Foto: AP/Ghaith Alsayed

Wegen der eskalierenden Konfrontation zwischen dem Nato-Mitglied Türkei und Russland in der syrischen Provinz Idlib wendet sich Ankara wieder mehr dem Westen zu. Präsident Recep Tayyip Erdogan bat Deutschland und Frankreich am Freitag um Hilfe. Zuvor hatte Moskau den Druck auf die Türkei erhöht. Die russische Regierung warf der türkischen Armee erstmals öffentlich vor, militante Gruppen in Idlib direkt zu unterstützen. Bei neuen Luftangriffen in der Provinz waren am Donnerstag zwei türkische Soldaten gestorben. Dennoch bleibt die türkische Regierung bei ihrem Ziel, sich mit ihrer Militärpräsenz in der syrischen Provinz ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über die Zukunft von Idlib und Syrien zu ertrotzen.

Obwohl die Türkei in Syrien die Gegner von Präsident Baschar al-Assad unterstützt und Russland der wichtigste Partner von Assad ist, hatten Ankara und Moskau in den vergangenen Jahren ihre Differenzen ausgeblendet und in Syrien kooperiert. Assads Angriff auf Idlib, die letzte Bastion der vorwiegend islamistischen Rebellen nach fast neun Jahren Krieg, hat die Gegensätze zwischen der Türkei und Russland jedoch offen zutage treten lassen. Erdogan hat seit Anfang Februar mehr als 5000 Soldaten und schwere Waffen nach Idlib geschickt, um Assads Offensive aufzuhalten und eine neue Massenflucht von Syrern in die Türkei zu verhindern.

Seitdem sind bei Gefechten mindestens 15 türkische Soldaten ums Leben gekommen. In den vergangenen Tagen starteten die Rebellen mit türkischer Unterstützung einen Gegenangriff, um die strategisch wichtige Kleinstadt Sarakib von den Syrern zurückzuerobern. Russische Kampfflugzeuge bombardierten darauf die Rebellenverbände. Ob die zuletzt getöteten zwei türkischen Soldaten bei diesen Bombardements ums Leben kamen, ist unklar; Ankara machte die syrische Luftwaffe verantwortlich. Verteidigungsminister Hulusi Akar betonte im Nachrichtensender CNN-Türk, sein Land wolle keinen Krieg mit Russland.

Die Gefahr einer solchen Konfrontation wächst dennoch, auch wenn Akar meint, was er sagt. Die Türkei strebe in Idlib nicht unbedingt einen militärischen Erfolg an, sagte der Türkei-Experte Simon Waldman von der britischen Denkfabrik Henry Jackson Society. Ankara wolle mit dem Engagement sicherstellen, dass türkische Interessen in Syrien nicht von anderen Akteuren ignoriert würden.

Diese Taktik ist jedoch riskant. Das russische Verteidigungsministerium warf der Türkei vor, die Rebellen in Idlib mit Artillerie unterstützt zu haben. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana meldete, die türkischen Soldaten hätten islamistische Kämpfer mit Fahrzeugen und Raketenwerfern ausgerüstet. Erdogan hat einen Angriff der türkischen Armee für den Fall angekündigt, dass sich die syrische Armee bis Ende kommender Woche nicht aus Idlib zurückzieht. Der Angriff könne jederzeit beginnen, sagte Erdogan diese Woche.

Einen russischen Plan zur Entschärfung der Lage lehnt Ankara ab. Der Plan sieht nach Angaben syrischer Aktivisten vor, dass sich Rebellen und Flüchtlinge in Idlib in einen sechs Kilometer breiten Korridor entlang der türkischen Grenze zurückziehen sollen. Im Rest der Provinz würde demnach Assads Armee das Kommando übernehmen.

Savas Genc, Türkei-Experte an der Universität Heidelberg, sieht das türkisch-russische Bündnis in Syrien unter erheblichem Druck. Die Türkei sei sehr von Russland abhängig, sagte Genc. Um aus der Zwangslage herauszukommen, könnte die Türkei versuchen, sich nach Jahren der Krise wieder dem Westen anzunähern. „Erdogan ist ein Pragmatiker“, sagte Genc: „Er kann heute mit Russland kooperieren und übermorgen wieder mit der Nato.“

In einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron rief Erdogan laut dem türkischen Präsidialamt zu „konkreter“ Hilfe gegen die „Aggression“ der syrischen Regierung in Idlib auf. Die humanitäre Krise in Idlib müsse beendet werden. Erdogans Verteidigungsminister Akar brachte die Stationierung amerikanischer Patriot-Raketen an der türkischen Grenze zu Idlib ins Gespräch. Das US-Flugabwehrsystem könnte laut Presseberichten dazu dienen, türkischen Kampfjets den Luftraum über Idlib zu öffnen. Bisher ist das Gebiet für die türkischen Militärflugzeuge tabu, weil Russland den Luftraum kontrolliert.

Der Krieg verschlimmert die Lage von rund 900.000 Menschen, die in Idlib auf der Flucht sind. Mohannad Othman, Chef der Hilfsorganisation Al-Sham, sagte in Istanbul, die Situation sei verzweifelt. „Wir werden Zeugen eines neuen Holocausts“, sagte er. Ein Zusammenschluss von Hilfsgruppen, die in Syrien aktiv sind, forderte einen sofortigen Waffenstillstand, um den „Albtraum“ für die Zivilisten in Idlib zu beenden. Nach Berechnungen der Hilfsorganisationen werden für die Versorgung der Menschen in der Konfliktregion rund 340 Millionen Dollar gebraucht.

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