Helfer in Afghanistan Reinhard Erös trinkt "Tee mit dem Teufel" Taliban

Bonn · Offizier, Fallschirmjäger, Arzt: Reinhard Erös aus Regensburg hilft am Hindukusch. Er baut Schulen in Afghanistan - und das mit dem Okay der Taliban.

Mittwoch vor einer Woche: Afghanische Männer setzen in Kabul eines von 19 Opfern bei, die bei einem Selbstmordattentat vor dem Obersten Gerichtshof ums Leben kamen.

Foto: dpa

Von der Idee eines Interviews kann man sich gleich verabschieden. Beleidigt fährt Reinhard Erös aus Haut und Sitz: „Was schiefläuft in Afghanistan“, poltert er, „das ist eine wirklich dumme Frage.“ Gerade hat er zwei Stunden vor Schülern in der Aula des Helmholtz-Gymnasiums über Afghanistan gesprochen, ohne Notizen. Jetzt holt er zu einem weiteren Referat aus, mäandert durch Besatzungsgeschichte, Beobachtung, Blitzanalyse, spickt alles mit geharnischten Kraftausdrücken und vor allem, giftigen Spitzen gegen die „Hohlköpfe“.

Hohlköpfe, das sind für Erös gelegentlich Journalisten, fast immer aber Politiker, die Schuld dafür tragen, dass sich die Dinge in seinem geliebten Afghanistan nicht zum Besseren wenden. Der Regensburger, 68 Jahre alt, reist schon die Hälfte seines Lebens durch das Land. Er kennt es besser als die meisten, hat dort Schulen und Ausbildungszentren für über 60 000 Kinder gebaut, reist, wenn er in Deutschland ist, wieder quer durchs Land, von Schule zu Schule, um schlaksig-ungelenke Pubertierende mit genervtem Augenrollen davon zu überzeugen, diese Welt auf gar keinen Fall, niemals, diesen Hohlköpfen zu überlassen.

Erös eilt ein Ruf voraus. Der ehemalige Fallschirmjäger liegt mit manchem Minister, auch der Bundeswehr, über Kreuz, hat hingeschmissen und auf Pensionsansprüche als Militärarzt verzichtet, als die deutsche Regierung dem „Kasperl“ (George W. Bush) nach dem 11. September 2001 uneingeschränkte Solidarität versprach: „Das würde ich nicht einmal meiner Frau versprechen und der könnte ich es wahrscheinlich.“

Unverschämt, aber authentisch

Er beschimpft sein Publikum gern („Klappe halten oder abhauen“), was das Publikum und erst recht das Establishment liebt. Entwicklungshelfer Erös, unverschämt, aber authentisch, wird mit Ehrungen überhäuft – Europäischer Sozialpreis wegen Verdiensten um internationale Versöhnung, Marion-Dönhoff-Förderpreis, Bundesverdienstkreuz erster Klasse ... die Liste ist lang. Über sein Frauenbild müsse „der Mantel postfeministisch-barmherzigen Schweigens“ gedeckt werden, findet die „taz“, die ihn im gleichen Atemzug aber ehrfurchtsvoll „Taliban-Flüsterer“ nennt.

130 000 deutsche Schüler hatte er bei seinen Vorträgen schon „vor der Flinte“, an diesem grauen Vormittag also die Gymnasiasten in Duisdorf. Gerade hat die Koalition einen 16-Punkte-Plan zur Abschiebung von Flüchtlingen verabschiedet, den Erös von der Bühne aus kurz abfragt, um dann den Schwachsinn des Ganzen in opulenten Farben zu zeichnen: „65 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht“, sagt er, „2050 könnten sich schon 250 Millionen Klimaflüchtlinge auf den Weg machen.“

Abschiebemaschinen mit 100 Plätzen zurück nach Afghanistan?! Er lässt die Schüler rechnen, wie viele Maschinen es da braucht, zieht das Fazit selbst: Abschiebungen nutzen nichts. „Das wird irgendwann mal euer Problem sein“, donnert er, „also interessiert euch für Politik, engagiert Euch.“ Denn: „Was sollen die Menschen machen ohne Nahrung – und was wollt ihr machen: Nato-Truppen aufstellen und alle Flüchtlinge zurück ins Mittelmeer schießen?“ Betretenes Schweigen, die Mädchen blicken auf ihre Stoffschuhe.

Auf die Wand projiziert der Aktivist Fotos aus Afghanistan, vom Nationalsport, dem Ziege-Ziehen: „Das klingt nicht sexy, aber es ist der tödlichste und gefährlichste Sport der Welt.“ Wie die Männer tagelang mit Härte, Knochenbrüchen und bloßen Händen zu Pferd um einen Ziegenkadaver kämpfen, schildert er. Wie sie auf gar keinen Fall den Zugriff auf das tote Tier aufgeben würden. Dazu der Kontrast: Fußball, Volkssport in Deutschland, ein Millionen Euro teurer Spieler lässt sich beim kleinsten Foul fallen, Fachärzte laufen auf den Platz, massieren sein Bein. „Und ihr hängt Euch Poster von diesen Helden an die Wand“, schreit Erös ins Auditorium, „das sind doch Memmen.“ Wie jeder Volkssport bestimme Ziege-Ziehen auch die afghanische Psyche und umgekehrt: Afghanen geben nicht auf, weshalb es eines der wenigen Entwicklungsländer ist, das nie kolonialisiert. „Diese Widerstandsfähigkeit imponiert mir“, sagt Erös, „nicht die Weinerlichkeit der Millionärsfußballer.“

Erös bläut Schülern Engagement ein

Erös kann gar nicht anders als schimpfen, wüten, poltern, sich aufregen. Das liegt an ihm, aber auch an der ignoranten Welt da draußen. Er hat die Demos der 68er-Generation noch vor Augen: „Heute werden in Syrien Tausende abgeschlachtet und keiner geht auf die Straße.“ Doch, kommt da zarter Protest aus dem Publikum. Das reicht, um Erös in Wallung zu bringen: „Tut mir einen Gefallen: Keine Lichterketten, so eine Scheiße, bewegt mal wirklich was. Man kann was tun in diesem Scheißstaat.“ Greenpeace, Attac, Hilfsorganisationen, besser noch in die Politik – Hauptsache Engagement, bläut Erös Schülern ein, Hauptsache, der „charakterlichen und intellektuellen Mittelmäßigkeit der Elite“ Anstand entgegensetzen.

„Hohlköpfe“ haben's auch in Afghanistan vermasselt. 1000 Polizeiausbilder hätte man gebraucht, weniger als 100 hat Deutschland geschickt. Ohne Sicherheit aber kein Fortschritt. 60 Prozent der Entwicklungshilfe seien an korrupte Warlords versandet oder in 7000 Kilometer Autobahn investiert worden – obwohl nur drei Prozent der Afghanen ein Auto besäßen. „Es könnte super laufen, hätte man es richtig angepackt“, so das bitteres Fazit. Bewässerungsanlagen hätten genützt. Doch dafür ist es zu spät. Die Bauern bauen Schlafmohn an, der kaum Wasser braucht, und der Politik „geht Afghanistan am Arsch vorbei“. Die Koalition will abschieben lassen, was Erös sofort wieder die allumfassende Hohlkopfmäßigkeit der Politik zeigt: „Viele Abgeschobene werden zu den Taliban gehen. Was sollen die denn sonst machen?“

1000 Milliarden Euro hat der Westen für seinen Militäreinsatz in Afghanistan bezahlt, nur 50 Milliarden für den Wiederaufbau. „Die Politik des Westens hat granatenmäßig versagt“, findet er.

Er trinkt „einen Tee mit dem Teufel“

Erös selbst hält sich nicht auf mit Blabla. Schon im Sowjetfeldzug ließ sich der Militärarzt a.D. beurlauben, um in Felshöhlen kranke Afghanen zu behandeln. Bei den Taliban, die er nur „die Religiösen“ nennt, eilt ihm eben auch ein Ruf voraus. Ein guter, und das seit Jahrzehnten. Nur deshalb kann der gerissene Bayer in ihren Gebieten auch Mädchenschulen bauen: „Wer sollte denn die Frauen, Schwestern und Mütter der Religiösen behandeln, wenn Mädchen keine Schule mehr besuchen, nicht Medizin studieren können?“

Natürlich verhandelt Erös mit den Taliban, trinkt in der Hölle „einen Tee mit dem Teufel.“ Und wo sie – mit Geld, das oft deutsche Schulen spenden – keine Schule bauen lassen wollen, baut Erös keine Schule. Punkt. Meistens jedoch kommt der bayrische Urtyp mit Teetrinken ziemlich weit.

Bislang hat er auf Personenschutz in den Provinzen verzichtet. Doch in einigen Distrikten macht sich allmählich der Islamische Staat breit. Erstmals hat die Terrormiliz im Februar Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ermordet. Wie soll man der Bedrohungen Herr werden, wenn Hunderte Luftangriffe dem Blutvergießen kein Ende bereitet konnten – im Gegenteil? Neue Schulen hielten Eltern davon ab, Kinder auf Koranschulen zu schicken und so Fundamentalisten in die Arme zu treiben, sagt er. „Afghanistan“, sagt Erös, „braucht alles, nur keine neuen Straßen.“

Weitere Infos unter www.kinderhilfe-afghanistan.de