„Indian Horse“ von Richard Wagamese Roman verarbeitet Tod indigener Kinder in Kanada

Bonn · Ein grausames Kapitel christlicher Missionsgeschichte: Auf den Geländen zweier ehemaliger katholischer Internatsschulen für indigene Kinder entdeckten Ermittler fast 1000 anonyme Gräber. Der selbst indigene Autor Richard Wagamese hat das Leid der Kinder beschrieben.

 1. Juli in Toronto: Indigene Demonstranten nehmen in Kanada am Protestmarsch "Every Child Matters Walk" am Nationalfeiertag des Landes teil.

1. Juli in Toronto: Indigene Demonstranten nehmen in Kanada am Protestmarsch "Every Child Matters Walk" am Nationalfeiertag des Landes teil.

Foto: dpa/Christopher Katsarov

Richard Wagamese hat vom Tod indigener Kinder in den Umerziehungsschulen gewusst. Der kanadische Schriftsteller (1955-2017), der selbst aus der Urbevölkerung stammte, hat schon 2012 über das tragische Leiden und Sterben im einst menschenverachtenden Erziehungssystem seines Landes unmissverständlich geschrieben – neun Jahre, bevor Ende Mai 2021 die Gebeine von 215 toten Kindern auf dem Gelände einer dieser ehemaligen meist katholischen „Residential Schools“ in der Provinz British Columbia entdeckt wurden. Die jüngsten Opfer waren nur drei Jahre alt. Vor einer Woche wurden in der Provinz Saskatchewan auf dem Terrain einer Ex-Schule mindestens weitere 750  unmarkierte Gräber indigener Kinder gefunden – und am vergangenen Mittwoch, wieder in British Columbia, 182 weitere Gräber, an einem vergleichbaren Ort. Ob auch dort indigene Kinder verscharrt liegen, muss noch geklärt werden.

UN-Menschenrechtsexperten fordern aktuell von der kanadischen Regierung und dem Vatikan sofortige Aufklärung über die Taten an der von 1890 bis 1978 betriebenen Schule in Saskatchewan. Sie verlangen Untersuchungen an allen anderen knapp 3000 entsprechenden Einrichtungen. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Kanadas Premier Justin Trudeau wiederum macht der katholischen Kirche schwere Vorwürfe. Sie sei ihrer Verantwortung nie gerecht geworden und widersetze sich einer rückhaltlosen Aufklärung. 1998 hatte sich Kanada schon einmal für die in den Spezial­internaten ausgeübte Gewalt an indigenen Kindern entschuldigt. Eine „Wiedergutmachungskommission“ wurde eingerichtet, die bald von „kulturellem Völkermord“ sprach.

Nach den Entdeckungen vom Mittwoch ordnete Trudeau halbmast für die Nationalflagge am Parlament an. Schon zuvor hatte er gefordert, die Kirche müsse alle Dokumente zu ihren für den kanadischen Staat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betriebenen Umerziehungsschulen freigeben und die Opferangehörigen entschädigen. Eine Antwort Roms steht aus.

Der Mund mit Laugenseife ausgewaschen, der Körper verletzt

Richard Wagamese hat Taten wie diese 2012 auf jeden Fall schon fiktional beschrieben. Und zwar in seinem Roman „Indian Horse“, der kürzlich erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der gefrorene Himmel“ erschien. Im Buch beobachtet der gerade aus seiner indianischen Familie gerissene Ich-Erzähler Saul White Horse an einer „Residential School“ entsetzt, wie die Kinder um ihn herum an allen nur möglichen nicht behandelten Krankheiten (und vor allem „an gebrochenem Herzen“) sterben. Sie werden von Nonnen und Patres unter Strafe gezwungen, ihre Kultur und Religion abzulegen und die Traditionen europäischer Einwanderer anzunehmen. „Der Herrgott ist jetzt dein Vater. Du hast keine Wahl“, werden Neulinge angedonnert. Wer nicht spurt, wird mit dem Riemen in die Kniekehlen geschlagen.

Der Junge Curtis White Fox bekommt den Mund mit Laugenseife ausgewaschen, als er es wagt, die Sprache seiner Ahnen zu sprechen, und erstickt noch im Klassenzimmer daran. Die selbstsichere Sheila Jack wird gebrochen, indem man sie zwingt, laufend den Katechismus aufzusagen, bis sie im Irrsinn endet. Der behinderte Arden Little Light schafft es nicht, seine ewig laufende Nase mit einem Taschentuch im Zaum zu halten. Da stellen ihn die Nonnen mit auf den Rücken gebundenen Händen vor den anderen Kindern an den Pranger – bis sie ihn eines Morgens an einem Dachbalken aufgehängt finden. Und Perry Whiteduck, der immer fliehen will, landet für zehn Tage und Nächte in der gefürchteten „Eisernen Schwester“ im kalten Schulkeller, dort, wo die Ratten die Kinder anzufressen beginnen. Er taucht nie mehr in der Klasse auf.

„Ich begriff nie, wie der Gott, der nach ihrer Botschaft über uns wachte, den Blick abwenden und solche Grausamkeiten, solches Leid ignorieren konnte“, lässt Wagamese seinen Buchhelden aufschreiben. Denn der blickt in dem ohne jede Rührseligkeit bildreich und eindringlich geschriebenen Roman als Mittdreißiger in Therapie auf sein verpfuschtes Leben zurück. Der einst aus seiner indigenen Weiß-Pferd-Familie entführte Saul hat alle Höhen und Tiefen hinter sich. Aus dem Trauma der Um­erziehungsschule hat ihn nur befreit, dass sich ein freundlicher Pater seiner annahm und den sportlichen Jungen für Kanadas Eishockey entdeckte. Die Flucht in den Nationalsport verhilft dem hoffnungslos entwurzelten Jungen zur ersten Bestätigung. Mit 18 Jahren legt er eine kurze glänzende Karriere hin.

Wagamese gelingt es faszinierend, den Zauber dieses ebenso eleganten wie ruppigen Kampfes um den schwarzen Puck in Sprache zu fassen. Auf dem „gefrorenen Himmel“ des Eises könnte das Leben des Helden eine positive Wendung nehmen. Aber den Außenseiter in dem in jeder Hinsicht „weißen“ Sport wirft die rassistische Diskriminierung durch Konkurrenten und Publikum aus dem Gleis. Saul White Horse verfällt dem Alkohol, wie so viele seiner indigenen Schwestern und Brüder im heutigen Kanada. Und erst in der Therapie gelingt es ihm, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen: indem er sein Leben aufschreibt und sich dazu zwingt, an die Stätten seiner größten Qual zurückzukehren.

Das Schicksal der Kinder betraf den Autor indirekt selbst

Da steht er also nach drei Vierteln des Romans zum ersten Mal wieder auf dem Gelände des inzwischen verfallenen Internats. Herabgelaufene Farbe an den Wänden sieht wie Blut aus. Von drüben grüßt das „Indianerfeld“, wo alle die Kinder verscharrt liegen, die sich irgendwann selbst mit dem Zinken einer Mistgabel aufgespießt haben oder in mit Steinen gefüllter Kleidung ins Wasser eines Sees gingen. Das habe nie aufgehört, „solange sie weiter Indianerkinder aus der Wildnis und aus den Armen ihrer Familien“ gezerrt hatten, erkennt der Erzähler und beginnt zu weinen – und sich plötzlich an sein eigenes Los zu erinnern.

Er spürt noch nach Jahrzehnten die Hand des einzigen Paters, der sich um ihn gekümmert hat, wie die ihm hinten im Stall die Hose herunterzieht. Wie „das Ziehen und Lutschen“ beginnt, das erst aufhört, wenn der Mann das Priestergewand wieder richtet. „Schmutzig, widerwärtig, krank“, ja mitschuldig fühlte er selbst sich damals, weiß der erwachsene Saul plötzlich wieder. Und nur Eishockey wird ihm, dem Opfer, helfen, die bösen Erinnerungen zeitweise zu verdrängen. „Davonfliegen und niemals wieder auf der verbrannten Erde meiner Kindheit landen müssen“, das sei damals sein einziges Lebensziel gewesen. Bis er die Wut und den Zorn über den erlittenen Missbrauch nicht mehr wird abblocken können – und sich sein einziger Gönner Jahrzehnte danach als Täter entpuppt.

Der Schriftsteller Richard Waga­mese ist fünf Jahre nach Erscheinen des Buches 62-jährig gestorben. Er hat noch miterleben können, dass Hollywood-Legende Clint Eastwood dieses bittere Meisterwerk über das böse koloniale Erbe Kanadas als Produzent filmisch anging. 2017 ging das Drama unter dem Titel „Indian Horse“ in die Kinos. Aktuell wird die todtraurige Geschichte des Gequältwerdens und Sterbens indigener Kinder hierzu­lande neu erzählt.

Das Schicksal der Kinder betraf den Autor übrigens indirekt auch selbst. Denn letztlich erzählt er im Roman das lebenslange Leiden seiner Eltern am Kindsein in den Umerziehungslagern und seine eigene Verlorenheit: Wagamese konnte Mutter und Vater nur als gebrochene Menschen in Erinnerung behalten.

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel. Blessing, 256 S., 22 Euro

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