Wissenschaftler kritisieren die Politik der Eurogruppe "Sie verlangen einen Blutzoll"

WASHINGTON · In Brüssel hört man das gar nicht gern: In Washington ist der in Europa weitgehend verhasste griechische Ex-Finanzminister Gianis Varoufakis weder Brandstifter noch Exot. Renommierte, teilweise mit Nobelpreisen dekorierte Wirtschaftsexperten wie Paul Krugman, Josef Stiglitz oder Jeffrey Sachs schreiben sich die Finger wund über einen aus ihrer Sicht nötigen Schuldenschnitt, der Athen angeboten werden müsse.

Dass Griechenland keinen substanziellen Schritt aus der Krise hat machen können, schreiben die Experten vor allem der radikal auf Sparen und Kürzen fokussierten Politik der Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) zu. Unter deren Diktat könne ein schwer angeschlagenes Land wie Griechenland nur kollabieren und nie das erforderliche Wachstum generieren, schreibt Stiglitz. Zumal heute schon klar sei, dass Athen seine Schulden unter den geltenden Bedingungen niemals wird zurückzahlen können, sagt Paul Krugman.

Krugman, seit langem als leidenschaftlicher Kritiker der vor allem von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) verfolgten Sparpolitik bekannt, vergleicht die EU-Kassenwarte gern mit Schamanen aus dem Mittelalter, die ihre Patienten zur Ader lassen. "Und wenn die Behandlung sie noch kranker macht, verlangen sie einen noch höheren Blutzoll." Griechenland weiter mit alternativlosen Friss-oder-stirb-Forderungen zu behelligen, werde die Lage nur noch verschlimmern und im Euro-Austritt enden. Wenn der "griechische Patient" die Rosskur nicht überlebe und andere mit sich reiße, müsse sich niemand wundern.

Weder Krugman noch der Columbia-Universitäts-Professor Jeffrey Sachs, Mitunterzeichner eines eindringlichen öffentlichen Appells an Kanzlerin Merkel, ihren Kurs zu ändern, verharmlosen bei ihrer Analyse die griechischen Schuld-Faktoren in der Misere: schwindsüchtiger Staat, aufgeblähte Bürokratie, korrupte Politiker, steuerbefreite Superreiche, zu hohe Militärausgaben und leichtsinnige Verschuldung. Dass Syriza, die Partei von Regierungschef Tsipras, die Antwort der Griechen auf eine halbherzige EU-Rettungspolitik war, steht für sie aber ebenso fest wie für die Chef-Kommentatoren der New York Times. "Europäische Regierungschefs haben die Krise durch ihr schlechtes Management noch verschlimmert", hieß es dort gestern.

Soweit würden Barack Obama und sein Finanzminister Jack Lew öffentlich natürlich nicht gehen. Nach außen stellt die Regierung, die sich seit Wochen in Telefon-Diplomatie mit der EU übt, das griechische Problem als weit weg und beherrschbar dar. Beherrschbar insofern, als dass nicht mit nennenswerten Auswirkungen auf das Weltfinanzsystem oder die US-Börsen gerechnet wird. Gleichwohl kann Washington sein Unverständnis darüber nicht verbergen, dass es die EU in fünf Jahren nicht hinbekommen hat, mit Griechenland ein Gebilde von der Wirtschaftskraft Oregons und der Einwohnerzahl Ohios vor dem finanziellen Untergang zu bewahren.

Umso häufiger hört man, dass Athen auf den "Pfad von Wirtschaftswachstum und Schuldentragfähigkeit" zurückgelotst werden müsse. Gerade das zweite Wortungetüm verrät die Kritik an Schäuble und seiner Gefolgschaft. Washington hält die Schulden, die Griechenland vor der Brust hat, schlichtweg für nicht schulterbar.

Dazu kommt etwas anderes. Ein Austritt aus dem Euro gilt dem Obama-Lager als potenzieller Störfaktor am Südost-Eingang des europäischen Hauses mit unübersehbaren geopolitischen Folgen, die Roger Cohen gerade in der New York Times als Horror-Szenario geschildert hat. Er spricht von einem instabilen "Venezuela-im-Mittelmeer", das im Zuge eines nicht auszuschließenden Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung Flüchtlingsmassen aus dem Mittleren Osten und Nordafrika ungehindert nach Nordeuropa ziehen lässt und von Russlands Präsident Putin umgarnt wird. Für Obama zu Ende gedacht ein erhebliches Risiko für die nationale Sicherheit.

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