Mindestens 39 Tote Suche nach Schuldigen von Brückeneinsturz in Genua beginnt

GENUA · Viele Brücken in Italien gelten als völlig überlastet, da sich der Verkehr auf ihnen im Laufe der Jahre erheblich gesteigert hat. Nun steht vor allem die Autobahngesellschaft Autostrade d'Italia im Fokus.

Der blaue Lkw mit der grünen Plane steht immer noch da. Hoch oben thront er auf den Resten der Brücke. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund mit den Betontrümmern auf. Ein trauriges Fanal für die Katastrophe. Mindestens 39 Menschen sind beim Einsturz der Morandi-Brücke am Dienstagmittag bei Genua gestorben, darunter auch drei Minderjährige.

Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbrach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-jährige Fahrer des Lkws einer italienischen Zeitung nach dem Unglück erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht unbedingt trifft. Dass diese Autobahnbrücke in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus, ist kaum als dummer Zufall zu bezeichnen.

Luigi bremste, dann sah er, wie vor ihm Dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Auch der Polizei hat er bereits am Dienstag von der Apokalypse erzählt. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsgang ein, stieß dann die Fahrertür auf und rannte gegen die Fahrtrichtung zurück. Der Motor lief noch, Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt. „Ich will mich nicht erinnern“, soll Luigi erzählt haben. „Es schmerzt zu sehr.“

Fünf Leichen noch nicht identifiziert

In Italien ist das Unvorstellbare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem das halbe Land sich in Bewegung setzt, um das Mittsommernachtsfest Ferragosto im Kreis der Familie zu feiern, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbrücke bei Genua ein. Auch Urlauber aus Deutschland und Österreich sind in diesen Tagen unterwegs. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt bei Genua auf der A 10 zwischen Flughafen und Hafen. Kaum zu glauben, dass dessen Fahrbahnen nun brüsk in der Luft enden.

Neben den bislang 39 Toten melden die Behörden 16 zum Teil Schwerverletzte. Fünf Leichen konnten noch nicht identifiziert werden. Die Feuerwehr sucht mit Suchhunden, obwohl es kaum noch Hoffnung auf Überlebende gibt. Mehr als 30 Autos und drei Laster sollen wie Spielzeug in die Tiefe gepurzelt sein und begruben Menschen unter sich. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedeltes Industriegebiet, sonst hätte es wohl noch mehr Opfer gegeben.

„Nein“, sagt Oberstaatsanwalt Francesco Cozzi am Mittwoch sehr bestimmt auf die Frage von Journalisten in Genua, ob es sich bei dem Einsturz um ein zufälliges, fatales Schicksalsereignis, eine „fatalità“ handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen Unbekannt. Denn es scheint eindeutig, dass menschliche Nachlässigkeit die 1967 eingeweihte und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat.

„Brücken stürzen nicht zufällig ein“, behauptet der aus Genua stammende italienische Stararchitekt Renzo Piano. „Sie sind Symbole.“ Man kann hinzufügen: Der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua ist auch ein Symbol für die Nachlässigkeit Italiens mit sich selbst. Denn wer das Land in diesen Jahren erlebt und beobachtet, wundert sich kaum noch über derartige Ereignisse.

5000 Laster täglich

Genua und Ligurien waren in den vergangenen Jahren Schauplatz verheerender Überschwemmungen, die der Natur angelastet werden, aber durch Klimawandel und Bauwut auch menschengemacht sind. Die Hauptstadt Rom versinkt seit Jahren im Müll, Neapel erstickt in brutaler Kriminalität, seit einiger Zeit müssen Migranten als Sündenböcke der in Wahrheit extrem über sich selbst frustrierten Italiener herhalten. In Rom gehen wöchentlich Busse in Flammen auf wegen mangelnder Wartung, es gibt eine Autobahnbrücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleistet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzgefährdet.

Viele von ihnen sind völlig überlastet. In den vergangenen Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Wenige Menschen starben, deshalb gab es kaum Schlagzeilen. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Natürlich ist die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt dem enormen Verkehrsaufkommen längst nicht mehr gewachsen. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Liguriens, sondern für Städte insgesamt.

5000 Laster sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal so viel wie vor 30 Jahren. Nur seit Jahresbeginn hat der Verkehr auf der betroffenen Strecke um 18 Prozent zugenommen. Seit Jahren wird über die Empfindlichkeit der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche sahen die Tragödie kommen. Dabei bleibt die Frage, ob nur die Brücken stabiler werden müssen oder vielleicht auch die Menschen ihr Konzept von Mobilität überdenken sollten.

150 Millionen Euro Geldstrafe?

Nun beginnt die Suche nach den Schuldigen. Die Verantwortlichen der Autobahngesellschaft Autostrade d'Italia stehen ganz oben auf der öffentlichen Abschussliste. Arbeitsminister und Vizepremier Luigi Di Maio brachte bereits Geldstrafen für die Autobahnbetreiber-Gesellschaft in Höhe von 150 Millionen Euro und die Entlassung der Manager ins Spiel, bevor die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufnahm. Der Staub unter der Brücke war noch nicht einmal gesackt, da wartete der zackige und von Umfragen begünstigte Innenminister Matteo Salvini von der rechtsnationalen Lega bereits in Manier eines Sheriffs auf. „Ich will Vor- und Nachnamen der Verantwortlichen“, polterte er, als könne drastische Bestrafung das Leid der betroffenen Familien lindern.

Von großen Infrastrukturplänen ist in Italien nun die Rede, von systematischen Untersuchungen bei Brücken, Tunnel und Viadukten. Ministerpräsident Giuseppe Conte, der am Mittwoch Betroffene in Genua besuchte, schrieb auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“ Italien könne sich keine weiteren Tragödien wie diese erlauben, schrieb er. Es klang eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugung.

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