Chaos in Kiew Umstrittene Verfassungsreform löst massive Ausschreitungen aus

MOSKAU · Die schwarz behelmten Reihen der Nationalgardisten standen im Qualm der Rauchbomben vor den Treppenstufen zum Parlamentseingang. Um die Protestierer einzuschüchtern, hämmerten sie im Takt mit Gummiknüppeln auf ihre Aluminiumschilder. Dann dröhnte ein Knall, riss mehrere Kämpfer zu Boden.

Gestern kam nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums bei Unruhen vor dem Parlament in Kiew mindestens ein Ordnungshüter, ein junger Wehrpflichtiger, ums Leben. 122 sollen verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden sein. "Es gibt über hundert Verwundete, einem wurde das Bein abgerissen", sagte der Kiewer Polizeikommandant Alexander Tereschtschuk.

Am Mittag hatten sich 3000 Oppositionelle vor dem Parlament versammelt. Dann verbreitete sich die Nachricht, dass drinnen die Mehrheit der Abgeordneten für eine umstrittene Gesetzesänderung gestimmt hatte, die den prorussischen Rebellengebieten in der Ostukraine Sonderrechte einräumt. Die Menge begann "Schande, Schande!" zu skandieren und die Sicherheitskräfte mit Flaschen und Pflastersteinen zu bewerfen. Ihre Versuche, ins Parlament einzudringen, scheiterten aber. Nach den Flaggen zu urteilen, die die Leute schwenkten, handelte es sich um Anhänger der populistischen "Radikalen Partei", der neugegründeten Partei "UKROP" und der rechtspopulistischen Partei "Freiheit".

Die Abgeordneten der "Radikalen" hatten zuvor im Parlament gegen das neue Gesetz gestimmt. Hinter der "UKROP"-Partei steht der Dnjepropetrowsker Oligarch Igor Kolomoiski, der in Opposition zu Präsident Petro Poroschenko gegangen ist, nachdem dieser ihn im März als Gouverneur von Dnjepropetrowsk entlassen hatte. Aber die Anhänger dieser Parteien zogen sich nach dem Blutbad zurück, während die Aktivisten der "Freiheits"-Partei vor dem Parlament blieben. Auch ihr Parteichef Oleg Tjagnybok wurde unter den Demonstranten gesichtet. "Die Abstimmung im Parlament war nicht der Grund, sondern der Vorwand für die Gewalttätigkeiten", sagte der Abgeordnete Sergei Wyssotski von der Regierungspartei "Volksfront" unserer Zeitung. "Sie wurden von politischen Kräften provoziert, die aus dem Parlament geflogen sind und unbedingt wieder hinein wollen." Tygnjaboks Freiheits-Partei war bei den Parlamentswahlen vergangenes Jahr überraschend an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und kämpft nach Ansicht vieler Beobachter um ein Comeback.

"Die in dem Gesetz vorgesehene Dezentralisierung des Lande ist zu sanft, um solch eine Eskalation auszulösen", erklärt der Politologe Wadim Karasjew. Mit den Unruhen wolle sich vor allem "Swoboda" wieder als radikale Kraft bei den Wählern ins Gespräch bringen, andere politische Kräfte versuchten, mit ihrer Hilfe Präsident Petro Poroschenko zu schwächen.

Kiewer Beobachter spekulieren jetzt auch, ob russische Geheimdienste hinter dem Blutbad stecken. Der Moskauer Duma-Abgeordnete Aleksei Puschkow aber spottet: "Poroschenko hat die Lage nicht mehr unter Kontrolle."

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