Abstimmung beginnt am 25. Juni Viele Russen klagen über den Wahlkampf zur Verfassungsreform

Moskau · Die Russische Obrigkeit propagiert eine Abstimmung für die Verfassungsreform – aber schweigt über die wichtigste Änderung.

 Präsident Wladimir Putins Vertrauensrate ist auf ein Rekordminus gesunken – trotzdem rechnen alle mit großer Zustimmung für seine Verfassungsreform.

Präsident Wladimir Putins Vertrauensrate ist auf ein Rekordminus gesunken – trotzdem rechnen alle mit großer Zustimmung für seine Verfassungsreform.

Foto: dpa/Alexei Nikolsky

Der Betrug trägt ärmellose T-Shirts. Zwei junge muskulöse Männer, Oleg und Alexander, verteilen auf einer Moskauer Straße vor einer versteckten Kamera des Kanals TV Doschd Papiertüten mit je 25 Sim-Karten darin. Und sie erklären, wie man sich mit diesen Sim-Karten 25-mal auf dem Stadtportal mos.ru zur Volksabstimmung über Präsident Wladimir Putins neue Verfassung anmelden und später abstimmen kann. „Du machst einen Screenshot, damit wir auch sehen, dass du wirklich abgestimmt hast“, sagen sie. Sie versprechen 75 Rubel für jede Anmeldung und 50 Rubel für jede Ja-Stimme, also 125 Rubel pro Sim-Karte, umgerechnet 1,60 Euro, 40 Euro für 25 Stimmen. In Moskau ein gut bezahlter Job.

In Russland tobt ein seltsamer Wahlkampf. Am nächsten Donnerstag beginnt die einwöchige Abstimmung über die Verfassungsreform, die Putin Anfang des Jahres startete und die nach einem Gewaltritt durchs Parlament schon im April per Volksabstimmung hätte abgesegnet werden sollen. Aber wegen der Corona-Pandemie musste der Wahlgang verschoben worden. Seit März drücken Quarantäne sowie Wirtschaftskrise auf die nationale Stimmung, laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums vom Mai ist Putins Vertrauensrate auf ein Rekordminus von 25 Prozent gesunken. Nach Ansicht vieler Analytiker verdrießt die Russen auch, dass Putin sich per Verfassungsänderung das Recht holt, noch zweimal Präsident zu werden und bis 2036 an der Macht zu bleiben.

„Dieses Manöver offenbart enorme Verachtung für die Gesellschaft“, schimpft der oppositionelle Politologe Juri Korgonjuk. „Aber unsere Gesellschaft hat sich schon lange daran gewöhnt, dass man sie als Fußabtreter betrachtet.“

Um Inhalte geht es in diesem Wahlkampf kaum

Auf jeden Fall behandelt das offizielle Russland Putins persönliche Fristenlösung peinlich diskret, das staatliche Portal zur Verfassungsabstimmung verschwieg bis Anfang Juni das Reset seiner Amtszeiten glatt. Stattdessen brachte die kremlnahe Agentur Fan ein Video in Umlauf, dass zwei Schwule zeigt, die einen entgeisterten Waisenjungen adoptiert haben und ihm prompt ein Mädchenkleid anbieten. „Wählst du so ein Russland?“, fragt eine Männerstimme und ruft dazu auf, für die Verfassungsänderungen zu stimmen. Der staatliche Sportkanal TV Match dagegen schreckt das Publikum mit jubelnden deutschen Eishockeyspielern im von den Russen mühsam gewonnenen Olympiafinale 2018. „Im letzten Drittel gingen die Deutschen sogar in Führung. Aber es wurden Änderungen vorgenommen“, agitiert der Sprecher für Putin Verfassungsänderungen.

Um die Inhalte der 43 im Block zur Abstimmung stehenden Änderungen geht es in diesem Wahlkampf kaum, und wenn, dann um soziale Garantien oder patriotische Parolen. Aber wer abstimmt, dem werden Gutscheine für Einkäufe oder Gaststättenbesuche angeboten oder Lose, um Autos oder Eigentumswohnungen zu gewinnen. Man kann ganze sieben Tage abstimmen, zu Hause, in abgelegenen Wahlkreisen, in Moskau und Nischni Nowgorod auch per Internet. Das soll die Corona-Infektionsgefahr verringern. „Aber es erleichtert“, schreibt das Nachrichtenportal meduza.io, „die Ergebnisse zu fälschen.“

Klagen wegen gezielten Wahlbeinflussungen von Vorgesetzten

Die Wahlrechtsgruppe Golos sammelte bis zum 15. Juni insgesamt etwa hundert Klagen von Wählern, beziehungsweise Lehrern, Sozialarbeitern oder Feuerwehrleuten, deren Vorgesetzte von ihnen verlangen, für die Verfassungsreform zu stimmen, oft elektronisch.

Oppositionspolitiker aber streiten seit Wochen, ob man den Wahlgang boykottieren oder mit Nein stimmen soll, zu Protesten ruft niemand auf. Offensichtlich hat sich Russland damit abgefunden, dass es eine solide amtliche Mehrheit für Putins Änderungen geben wird. Laut Lewada-Zentrum wollen 44 Prozent dafür, 32 Prozent dagegen votieren. Politologe Korgonjuk rechnet mit gut 50 Prozent Beteiligung und etwa 75 Prozent Ja-Stimmen. „Das Ergebnis soll nicht völlig asiatisch aussehen, es wird keine 98 Prozent geben wie in Turkmenistan.“

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