Ein Jahr nach dem Absturz von Flug MH17 Vier Kondensstreifen und eine Rauchsäule

GRABOWO · Vor einem Jahr, am 17. Juli, wurde über dem Kriegsbiet im Donbass eine Boeing 777 der Malaysia Airlines abgeschossen. Die Maschine, die von Amsterdam nach Kuala Lumpur unterwegs war, brach in über 10.000 Metern Höhe auseinander, alle 298 Insassen kamen um.

 18. Juli 2014: Am Tag nach dem Abschuss liegt ein Wrackteil der Boeing auf einer Wiese.

18. Juli 2014: Am Tag nach dem Abschuss liegt ein Wrackteil der Boeing auf einer Wiese.

Foto: AFP

Auf der Hauptstraße des Dorfes Rassypnoje steht ein Hüne mit Bauch und schaut zum Himmel. "Es sah aus, als käme ein Schwarm eiliger Vögel geflogen", sagt er. Er heißt Alexander, ist ein Bergmann in Rente. "Aber es waren Menschen."

Sofort entbrannte eine Debatte über die Schuldigen des Massakers, bis heute werden prorussische Separatisten, die ukrainische Armee oder im Donbass kämpfende russische Streitkräfte verdächtigt.

Die zerfetzte Boeing entleerte sich auf eine Schneise von über sechs Kilometern Länge, es regnete Wrackteile, Koffer und tote Passagiere, später segelten Aluminiumfetzen nieder. Am weitesten flog der Mittelrumpf des Flugzeugs, er stürzte nur 100 Meter vor dem Dorf Grabowo ins Feld.

"Er drehte sich in der Luft um sich selbst", sagen zwei Frauen, die vor ihrem Haus auf einer Holzbank sitzen und beide Natascha heißen. "Dann riss ein Flügel ab, und er stürzte zu Boden. Sonst wäre er ins Dorf gekracht." Im Wiesenhain gegenüber kauert eine Reihe verwaschener Stofftierchen, mit der die Anwohner die Toten trösten wollen.

Ein Mann im benachbarten Pelagejewka spricht von zwei ukrainischen Kriegsflugzeugen. Der erste Kampfjet habe die Boeing abgeschossen, der zweite den ersten, um Zeugen zu beseitigen. Andere sagen, die Ukrainer hätten die Boeing versehentlich abgeschossen, wollten eigentlich die Maschine Putins erwischen.

Hier leben Malocher. Sie lügen nicht, sie sagen ihre Wahrheit, eine Wahrheit, die erlebte Wirklichkeit mit den Parolen des russischen Staatsfernsehens mischt. Allerdings glauben inzwischen auch Moskauer Experten, kein Kampfjet, sondern eine Buk-Luftabwehrrakete habe das Blutbad angerichtet. Die britische Rechercheagentur Bellinghouse hat die Position des Raketenwerfers fünf Kilometer südlich der Straße von Tores nach Sneschnoje geortet.

Panzerketten haben die Teerstraßen hier zerfurcht, vor und nach dem Absturz wurde heftig gekämpft. Krasny Oktjabr hat nur einen Schotterweg, die Häuser ducken sich hinter verwilderten Hecken. "Schon wieder Westjournalisten", bellt eine Frau. "Die abgestürzte Boeing? Das ist euer Problem, nicht unseres!"

Zwei Kilometer weiter nördlich, in der Grubensiedlung Schachta 4, hat der junge Bergmann Sascha die Rakete gesehen. "Sie zog eine weiße Rauchsäule hinter sich her, flog eine ziemliche Kurve." Natürlich sei die Rakete eine Kurve geflogen, sagen seine Begleiter: "Die Ukrainer wollten vortäuschen, die Rakete sei aus dem nahen Russland herübergeflogen."

Nördlich der Straße Tores-Sneschnoje erzählen die Leute von Flugzeugen, südlich von Raketen. Manche haben ihr Brüllen gehört, andere sagen, sie sei lautlos geflogen. Fast alle versichern, sie sei aus dem Südwesten gekommen, wo ukrainische Truppen standen.

Von welchem Ort wurde sie wirklich gestartet? Da widerspricht sich die Fachwelt wie das Bergmannsvolk vor Ort. Bellinghouse hat die Abschussrampe bei Perwomajski lokalisiert, die russischen Buk-Hersteller reden von dem Dorf Saroschtschenskoje.

Und die Leute in der Siedlung Moltschaniwo schilderten einem Reporter des Berliner Rechercheteams Correctiv "ein krasses Teil mit vier Raketen", das beim Abschuss die Ziegel der nächsten Gebäude habe erzittern lassen. Jetzt aber staunt ein anderer Anwohner: "Von einer Rakete haben wir nichts mitbekommen. Ich habe bei den Raketentruppen gedient, ich weiß, wie sie sich anhören."

Wer lange genug sucht, findet hier Zeugen, die jede Version bestätigen. Hier erzählt jeder seine Wahrheit. Eine Wahrheit, zerfetzt vom Krieg, der schon über 6000 Menschen, auch Hunderte Kinder, getötet hat. Für die Menschen im Donbass ist der Absturz fremdes Unglück, für das sie keine anderen Schuldigen suchen möchten als für das eigene Leid.

Alexander in Rassypnoje schlägt vor, Tee zu trinken, führt uns in die Gartenlaube, stellt Frau, Tochter und Enkel vor. Seine Tochter Nastja lächelt traurig. "Uns hat es auch böse getroffen. Letzte Woche. Mein Mann ist gefallen." Neun Monate sei er im Krieg gewesen, sie habe ihn oft gebeten, heimzukehren.

"Aber er hat gesagt, er müsse weiter kämpfen, damit diese Faschisten mir und den anderen Frauen nichts antun können." Wenn jemand beweist, wer die Boeing über dem Donbass abgeschossen hat, das Sterben dort wird er damit kaum beenden.

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