Interview zu Srebrenica Völkerrechtler Kreß: "Der lange Atem hat sich ausgezahlt"

BONN · Die Ermordung von Tausenden Muslimen in der UN-Schutzzone Srebrenica in Bosnien-Herzegowina vor 20 Jahren gilt als eines der schwersten Völkerrechtsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Über die Ereignisse und ihre juristische Aufarbeitung sprach Lutz Warkalla mit dem Kölner Professor für Strafrecht und Völkerrecht, Claus Kreß.

 Der Schmerz ist groß: Bosnische Musliminnen trauern am 11. Juli 2007 während der Bestattung von 465 Opfern des Massakers in Potocari bei Srebrenica.

Der Schmerz ist groß: Bosnische Musliminnen trauern am 11. Juli 2007 während der Bestattung von 465 Opfern des Massakers in Potocari bei Srebrenica.

Foto: dpa

Herr Kreß, von wie vielen Opfern müssen wir im Zusammenhang mit Srebrenica reden?
Claus Kreß: Bis heute ist das nicht völlig sicher. Ich spreche immer etwas vorsichtig von mindestens 7000 getöteten Menschen, aber die Zahlen können auch höher sein.

Wie kommt man zu diesen Zahlen?
Kreß: Sehr wesentlich durch das Auffinden der Massengräber. In den Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag sind daher auch nicht so sehr die Todeszahlen selbst angegriffen worden. Von Seiten der Angeklagten sind vielmehr andere Todesgründe wie etwa Kampfhandlungen oder Selbsttötungen geltend gemacht worden. Doch dieser Einwand hat die Richter nach der Sichtung zahlreicher Beweise, darunter Zeugenaussagen, DNA-Analysen und demographische Daten, nicht überzeugt.

Seit den Massakern von Srebrenica kreist die Debatte vor allem um die Frage, ob es sich um Völkermord handelte. Warum ist das so wichtig?
Kreß: Das hat damit zu tun, dass der Völkermord in der internationalen Wahrnehmung eine besondere verbrecherische "Qualität" hat. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda hat den Völkermord als das "Verbrechen der Verbrechen" - The crime of crimes - bezeichnet. Von dieser Feststellung befördert hat sich die Vorstellung festgesetzt: Der Völkermord ist das Verbrechen schlechthin.

Was bedeutet das für Opfer und Täter?
Kreß: Den Angehörigen der Opfer und den Staaten, die mit den Opfern besonders verbunden sind, ist es ganz besonders wichtig, etwa vor Gericht bestätigt zu erhalten, dass es sich um einen Völkermord und nicht um irgendein vermeintlich minderschweres Massenverbrechen gehandelt hat. Und den Tätern und den Staaten hinter den Tätern ist es ebenso wichtig, diese juristische Einschätzung zu vermeiden. Deshalb wird auch in der Armenien-Debatte so heftig um den Völkermordbegriff gerungen. Oder nehmen Sie den Fall Sudan und seines immer noch amtierenden Präsidenten Al Bashir: Eine vom UN-Sicherheitsrat eingesetzte internationale Kommission zum Darfur-Konflikt kam 2005 zwar zu dem Ergebnis, dass die Machthaber im Sudan mit hoher Wahrscheinlichkeit schwerste Völkerstraftaten zu verantworten haben, konnte sich aber nicht dazu durchringen, von Völkermord zu sprechen. Das ist vom Regime Al Bashirs fast wie ein Sieg gefeiert worden. Das ist keine gute Entwicklung.

Was meinen Sie damit?
Kreß: Durch die übertriebene Heraushebung des Völkermords werden sehr schwere Völkerstraftaten, die nicht als Völkermord eingestuft werden können, an den Rand auch des medialen Interesses gedrängt. Es interessiert nur noch die Frage: War es ein Völkermord?

Was ist mit sogenannten ethnischen Säuberungen?
Kreß: Das ist ein sehr gutes Beispiel. Es ist mit großer Hartnäckigkeit um die Frage gerungen worden, ob die brutalen "ethnischen Säuberungen", die von den bosnischen Serben zur Herstellung eines "Groß-Serbiens" in den 1990er Jahren betrieben worden sind, einen Völkermord darstellen. Sowohl der Jugoslawien-Strafgerichtshof als auch der zwischenstaatliche Internationale Gerichtshof haben das verneint. Die Gerichte haben erkannt, dass die Staaten sich 1948 bewusst auf eine so enge juristische Definition des Völkermords verständigt haben, dass selbst "ethnische Säuberungen" nicht ohne Weiteres darunter fallen. Aber diese zutreffende Erkenntnis darf nicht dazu führen, dass ein so schwerwiegendes internationales Verbrechen wie die Vertreibung einer ganzen ethnischen Bevölkerungsgruppe verharmlost wird. Bei solchen Vertreibungen handelt es sich um "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Diese Verbrechen, die übrigens schon vor dem Völkermord als internationale Verbrechen anerkannt worden waren, können an einen Völkermord zumindest nah heranreichen.

Was macht juristisch den Völkermord aus?
Kreß: Völkermord ist definiert als der Angriff auf eine ganze Menschengruppe, die durch nationale, religiöse, ethnische oder rassische Merkmale bestimmt sein muss. Dieser Angriff muss mit dem Ziel unternommen werden, einen wesentlichen Teil dieser Gruppe zu zerstören. Die Zerstörung verstehen die internationalen Gerichte eng in einem physisch-biologischen Sinn.

Sind denn 7000 ermordete Menschen ein wesentlicher Teil der muslimischen Bosnier gewesen?
Kreß: Das war eine der großen Fragen. Die Muslime in Srebrenica machten weniger als fünf Prozent der Muslime in Bosnien aus. Die internationalen Gerichte bewerten Srebrenica dennoch als Völkermord, weil sie auch qualitative Aspekte berücksichtigen. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass die bosnischen Muslime in der UN-Schutzzone Srebrenica 1995 von ganz besonderer strategisch-symbolischer Bedeutung waren: Srebrenica war damals einer der letzten Flucht- und Schutzpunkte für die Muslime in Ost-Bosnien.

Nach 20 Jahren sind von 20 Verfahren noch immer vier offen, darunter auch die gegen die mutmaßlichen Haupttäter Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Warum dauert das so lange?
Kreß: Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass Srebrenica zum Gegenstand internationaler Strafverfahren geworden ist und dass die Verfahren auch vor den Hauptverantwortlichen nicht haltmachen. Aber fast jedes internationale Strafverfahren ist außergewöhnlich fordernd, was die Ermittlungen, die Beweisaufnahme und begleitende Maßnahmen wie etwa Zeugenschutz oder Übersetzungen anbetrifft. Zudem geht es um komplexe Konflikte, nicht um einen einzelnen Mord. Das lässt sich nicht in einem Jahr erledigen.

Was sind die Hauptprobleme?
Kreß: Die internationalen Strafgerichte verfügen über keine eigene Polizei, können ihre Anklagen und Haftbefehle nicht aus eigener Kraft durchsetzen, sondern sind auf die Unterstützung der Staaten angewiesen. So fehlte es lange Zeit an der Bereitschaft, die mutmaßlichen serbischen Haupttäter Karadzic und Mladic nach Den Haag zu überstellen. Doch der lange Atem auch der europäischen Politik hat sich am Ende ausgezahlt. Dadurch besteht die Chance, das zu erreichen, worum es im Völkerstrafrecht in erster Linie gehen sollte: Die Hauptverantwortlichen, die Spitzen des jeweiligen Unrechtssystems für ihre Taten haftbar zu machen.

Den internationalen Strafgerichtshöfen wird oft Voreingenommenheit vorgeworfen...
Kreß: Politische Kritik an internationalen Strafgerichtshöfen wird es immer geben, solange die zugrunde liegenden politischen Konflikte weiter schwelen und eine wirkliche Versöhnung auf sich warten lässt. In einem solchen Klima werden internationale Strafurteile immer auf die heftige Kritik einer Seite stoßen. Wir kennen das in Deutschland aus eigener Erfahrung: Denken Sie bitte einmal daran, wie lange wir gebraucht haben, um zu den Nürnberger Prozessen ein einigermaßen ruhiges Verhältnis zu finden und sie nicht einfach als Siegerjustiz zu denunzieren.

Wie groß ist die Gefahr, dass internationale Gerichtshöfe politisch instrumentalisiert werden?
Kreß: Diese Gefahr gibt es natürlich. Ich glaube aber, dass die Richter und Staatsanwälte am Jugoslawien-Tribunal ihr Bestes gegeben haben, dieser Gefahr zu wehren. Das Gericht hat nicht nur gegen Serben ermittelt, sondern auch gegen Kroaten und bosnische Muslime. Ob die Verfahren und die Urteile das Unrecht, das sicherlich alle Konfliktparteien auf sich geladen haben, am Ende einigermaßen fair abbilden, werden später Historiker entscheiden müssen.

Gilt das Bemühen um die Gleichheit vor dem Recht auch für andere internationale Strafgerichtshöfe?
Kreß: Das Bemühen möchte ich keinem Gericht bestreiten, aber die Ergebnisse waren nicht immer befriedigend. Im Fall des Ruanda-Tribunals ging es natürlich primär darum, den Genozid an den Tutsi vor Gericht zu bringen. Aber es gab auch sehr gravierende Fragen an die neue ruandische Regierung. Diese Regierung hat mit großer Macht und viel Druck auf die damalige Chefanklägerin Carla Del Ponte dagegen angekämpft, dass diese wegen Racheverbrechen gegen Hutu ermittelte. Am Ende hat sich die internationale Strafgerichtsbarkeit an dieser Stelle als nicht stark genug erwiesen - Del Ponte musste zurücktreten. Der hier zu erhebende Vorwurf richtet sich aber nicht an die Richter und Staatsanwälte, sondern an die Politik, die den nötigen Rückhalt versagt hat. Die internationale Strafgerichtsbarkeit ist auf politische Rückendeckung für ein unpolitisches Vorgehen angewiesen. Rückendeckung auch dort, wo sich die kritischen Fragen gegen die eigenen Freunde richten. Das erfordert Prinzipienfestigkeit, Mut und Geduld - und diese haben Sie in der Politik leider nicht immer in ausreichendem Maß.

Ehemalige niederländische Blauhelme fordern bis heute Klarheit darüber, warum die Enklave geopfert und sie im Stich gelassen wurden.
Kreß: In den Haager Strafverfahren ging es nicht primär um diese Frage. Es gibt aber einen Bericht des UN-Generalsekretärs und einen solchen einer niederländischen Kommission, die sich heute noch beklemmend lesen. Die niederländischen Soldaten vor Ort mögen Fehler gemacht haben. Aber der entscheidende Fehler war, dass die internationale Gemeinschaft sie nicht angemessen ausgestattet und im Angesicht des serbischen Angriffs im Stich gelassen hat. Das niederländische Kontingent hat um Hilfe gerufen und um Luftunterstützung gebeten. Diese wäre möglich gewesen, wurde aber nicht gewährt. So sahen sich die UN-Soldaten am Ende mit serbischen Angreifern konfrontiert, ohne diesen militärisch etwas entgegensetzen zu können.

Mit der Veranstaltung "Srebrenica - Eine europäische Tragödie. Rückblick und Analysen zum 20. Jahrestag" erinnert die Universität Köln am Donnerstag, 9. Juli, ab 18 Uhr an den Völkermord von Srebrenica. Auf dem Programm stehen Beiträge von renommierten Vertretern der Rechtswissenschaft, der Geschichtswissenschaft sowie der Rechtsmedizin. Die Veranstaltung findet im Hörsaal II der Uni Köln statt.

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