Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen wirbt mit emotionaler Rede für sich

BERLIN/STRASSBURG · "Es lebe Europa! Vive l’Europe! Long live Europe!": Ursula von der Leyen hat mit einer emotionalen Rede um die absolute Mehrheit der Abgeordneten im Europäischen Parlament für das höchste politische Amt der EU geworben.

 Ursula von der Leyen hält ihre Bewerbungsrede vor den Abgeordneten des Europaparlaments in Straßburg.

Ursula von der Leyen hält ihre Bewerbungsrede vor den Abgeordneten des Europaparlaments in Straßburg.

Foto: Michael Kappeler

Auf die englischen Buchmacher ist auch kein Verlass mehr. Beim Brexit hätten sie sich schon geirrt. Deswegen möchte Katarina Barley an diesem ganz besonderen Tag keine Wette auf Ursula von der Leyen abgeben. In 22 Minuten wird die deutsche Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin ihre Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament halten.

Aber so viel will Barley, die als Bundesministerin der Justiz fast zwei Jahre mit Verteidigungsministerin von der Leyen am Kabinettstisch in Berlin saß, zu dieser frühen Stunde doch aus der kleinen Straßburger Glaskugel herauslesen: „Ich glaube, die Chancen stehen gut, dass sie es schafft.“ Nun gut, es gebe nachvollziehbare Kritik, an der Kandidatur von der Leyens. „Fakt ist, dass sie über Nacht Europapolitikerin geworden ist“, sagt Barley, die gewissermaßen selbst über Nacht und nicht ganz freiwillig zur deutschen SPD-Spitzenkandidatin für die Europa-Wahl gemacht wurde. „Ich mag sie persönlich. Und ich wünsche ihr alles Gute“, stellt Barley noch klar. Obwohl die Art und Weise, wie die EU-Staats- und Regierungschefs von der Leyen zur Kandidatin für das höchste politische Amt der EU ausgeguckt hätten, einer „Kampfansage an das Parlament“ gleichkomme, betont Barley noch.

Die Frau hinter dem Pult mit der Sitzplatznummer 21 ist hoch konzentriert. Gleich muss sie die Rede ihres Lebens halten. Sie hat nicht vor, sich hier und heute in einer Kampfansage mit dem Europäischen Parlament anzulegen. Sie braucht später am Tag die absolute Mehrheit von 374 der 747 Abgeordneten. Gleich muss sie ihren Entwurf eines Europas der Zukunft vorlegen. Von der Leyen, als Tochter von Ernst Albrecht, einstiger Attaché beim Ministerrat der Montanunion und späterer Ministerpräsident von Niedersachsen, in Brüssel geboren, lange bevor sie begriffen habe, dass sie auch Deutsche sei, sei sie eben Europäerin gewesen.

Von der Leyen startet auf Französisch, wechselt drei Minuten später ins Deutsche und absolviert den restlichen Teil ihrer insgesamt 33-minütigen Rede fast ausschließlich in Englisch. Sie wirkt aufgeräumt, sollte sie nervös sein, verbirgt sie das geschickt. Sie macht deutlich, dass sie gerne bereit wäre, das große Schiff Europa zu steuern – im stürmischen Weltmeer. Multilateralismus gegen Unilateralismus, Plädoyer für regelbasierte Ordnung. „Wir müssen den europäischen Weg gehen.“ Um 09:15 Uhr, fünf Minuten nach Beginn ihrer Rede, bekommt die CDU-Politikerin erstmals Applaus im Parlament. Von der Leyen setzt sich für Frauen („Wir machen die Hälfte unserer Bevölkerung aus. Wir wollen unseren fairen Anteil!“), Geschlechtergerechtigkeit, für Rechtsstaatlichkeit, für stärkere Rechte des Parlamentes und für eine Stärkung des Prinzips der Spitzenkandidaten ein. Sie kündigt eine höhere Besteuerung großer Internetkonzerne in Europa an. „Es ist nicht akzeptabel, dass sie Profite machen, aber keine Steuern bezahlen.“

Von der Leyen verspricht einen Pakt für Migration und Asyl

Sie geht auf die Grünen zu, die angekündigt hatten, von der Leyen geschlossen nicht zur Kommissionspräsidentin zu wählen. Bis 2050 will sie Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent auf diesem Erdball machen. „Unsere drängendste Aufgabe ist es, unseren Planeten gesund zu halten.“ Die Kandidatin stellt weiter eine Kohlendioxid-Grenzabgabe in Aussicht. Irgendwann klatschen auch die Grünen, auch wenn der belgische Fraktionschef Philippe Lamberts später sagen wird, es reiche noch immer nicht. Immer noch zu wenig Klimaschutz. Man werde von der Leyen nicht wählen, aber für den Fall, dass sie Kommissionspräsidentin werden sollte, wolle man sie dort unterstützen, wo sie konkret etwas für Klimaschutz tue.

Von der Leyen verspricht einen Pakt für Migration und Asyl, will Schleusern die Geschäftsgrundlage entziehen, einen „humanitären Korridor“ für Flüchtlinge schaffen und betont Seenotrettung als europäische Pflicht. Irgendwann ist sie beim Thema „Brexit“. Die Brexitiers unter den britischen Abgeordneten, jede und jeder eine kleine Union-Jack-Flagge vor sich auf dem Tisch, klopfen begeistert auf den Tisch. Jawohl, der Brexit…! Eine Verlängerung der Ausstiegsfrist wäre möglich, „wenn es gute Gründe gibt“. Von der Leyen über den Brexit: „Das ist eine ernste Entscheidung. Wir bedauern sie, aber wir respektieren sie.“ Die Brexit-Befürworter sind aus dem Häuschen.

Der deutsche AfD-Europaabgeordnete Jörg Meuthen greift die Kandidatin direkt an. Von der Leyen sei dem Amt der Kommissionspräsidentin „nicht gewachsen“, dies habe sie schon in ihren früheren Ämtern als Bundesministerin für Familie, für Arbeit und der Verteidigung gezeigt. „In keinem Amt haben Sie dem Wohle des deutschen Volkes gedient.“ Die CDU-Politikerin habe zuletzt die Bundeswehr „kaputt gespart“ und „praktisch nicht verteidigungsfähig“ zurückgelassen. Es werde ein „großes Aufatmen durch die Truppe gehen“, wenn von der Leyen ab diesem Mittwoch nicht mehr Verteidigungsministerin sein werde. Von der Leyen kontert Meuthen kühl: „Ich bin geradezu erleichtert, dass ich von Ihnen keine Stimme bekomme.“ Sie will eine Mehrheit der Demokraten. Die Kandidatin hat ihre Losung ausgegeben: „Es lebe Europa! Vive l’Europe! Long live Europe!“ Von der Leyens Kontinent.

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