Drama in London Warum der Brexit alle Europäer betrifft

London · Das Abkommen zwischen der EU und Großbritannien wird fast alle Europäer irgendwie berühren – wenn es denn zustande kommt. Nach einer Rücktrittsserie von Kabinettsmitgliedern steht Premierministerin Theresa May mit dem Rücken zur Wand.

Als Theresa May vor das Parlament tritt, wirkt sie aufgeräumt, fast selbstbewusst steht sie an ihrem Pult. Einige Abgeordnete rufen zustimmend „Aye“ ins brechend volle Unterhaus, bevor die Regierungschefin am Donnerstagvormittag erneut beginnt, das mit Brüssel ausgehandelte, „bestmögliche“ Austrittsabkommen zu verteidigen. Ihr beherzter Auftritt mutet insbesondere deshalb bemerkenswert an, weil nur kurz zuvor eine Rücktrittswelle über Westminster hinweggefegt war. Aus Protest gegen den mit Brüssel vereinbarten Kompromiss kündigte Brexit-Minister Dominic Raab seinen Rücktritt an.

Es war der schwerste Rückschlag für die Regierungschefin. Ausgerechnet jener Konservative, der zumindest auf dem Papier für die Scheidung mitverantwortlich war, schmiss hin, weil die Vorschläge zum Status der Provinz Nordirland „eine echte Bedrohung für die Integrität“ des Königreichs seien. Er löste ein London-Domino aus. Neben Raab gaben die Arbeitsministerin Esther McVey sowie mehrere Staatssekretäre ihre Ämter auf. Dabei hatte die Premierministerin erst am Mittwochabend ihrem Kabinett nach fünfstündiger Debatte die Zustimmung zu dem mit Brüssel erreichten Kompromiss abgerungen. Eine Nacht aber kann in der Politik eine schrecklich lange Zeit sein. Nun am Morgen steckte Theresa May in einer Regierungskrise, wieder einmal kämpft sie um ihr politisches Überleben.

Fast drei Stunden lang lässt sie sich im Parlament grillen. Das Geschehen gleicht einer öffentlichen Demontage der Premierministerin – live übertragen und via soziale Medien kommentiert. „Wir können uns entscheiden, ohne Abkommen auszuscheiden. Wir können riskieren, dass es keinen Brexit gibt. Oder wir können uns entscheiden, zusammenzustehen und das bestmögliche Abkommen zu unterstützen. Dieses Abkommen“, ruft May den Abgeordneten zu.

Dramatische Konfrontation

Am Ende hätte sie aber nicht einsamer dastehen können. Abgeordnete, auch aus der eigenen Partei, verlangten ihren Rücktritt, andere machten deutlich, dass sie den Deal bei der entscheidenden Abstimmung niemals absegnen würden.

Und dann forderte auch noch der erzkonservative Superstar der Brexit-Anhänger, Jacob Rees-Mogg, seine Chefin in einer beinahe dramatischen Konfrontation heraus. Sie solle ihm einen Grund nennen, warum er nicht einen Brief einreichen soll, der ihr Ende in der Downing Street fordere, näselte der einflussreiche Europaskeptiker in gewohntem Oberschichten-Akzent. Der Exzentriker wirkt stets, als sei er aus einem längst vergangenen Jahrhundert gefallen – damals, als Britannien noch als Imperium auftrat, in dem die Sonne niemals unterging.

Es war ein Showdown vor historischer Kulisse des Westminster-Palasts, nur dass Mays ärgste Gegner keineswegs auf der gegenüberliegenden Seite der Opposition saßen, sondern auf einer der grünen Bänke hinter derselben roten Linie. Die optisch hervorgehobenen Striche sind ein Relikt aus alten Zeiten, als diese blutige Gefechte im Plenum verhindern sollten. Mancher Beobachter mag angesichts des derzeitigen Theaters über solche Details schmunzeln. Chaos. Lügen. Verschwörungen. Das Drama auf der Insel will kein Ende nehmen.

Der erbitterte Widerstand gegen May und den Vertragsentwurf kommt vor allem aus dem EU-feindlichen Flügel der Tories. Sie lehnen jeden Kompromiss mit Brüssel ab und attackieren insbesondere den ausgehandelten Backstopp. Diese Rückfallversicherung soll im Notfall gewährleisten, dass es nach dem EU-Austritt keine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland gibt.

Die Drohung des Bruchs

London und Brüssel hatten sich darauf geeinigt, dass das gesamte Land in der Zollunion verbleibt, sollte keine andere Lösung gefunden werden. Das Problem: Auch die nordirische Unionistenpartei DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, droht mit dem Bruch dieser Vereinbarung.

Derweil hegen die Brexit-Gegner die Hoffnung, dass die Scheidung doch noch abgewendet werden kann und werben für ein erneutes Referendum. Mit wenig Aussicht auf Erfolg: Weder May noch die Spitze der oppositionellen Labour-Partei unterstützen ein zweites Volksvotum.

Am Nachmittag noch macht Rees-Mogg seine Drohung wahr und forderte beim zuständigen Komitee schriftlich ein Misstrauensvotum. Weitere Parteikollegen aus den konservativen Reihen dürften in den kommenden Stunden oder Tagen folgen. Die EU-Feinde proben den Aufstand, doch werden sie die nötigen Stimmen zusammenbekommen? Für einen Misstrauensantrag müssen mindestens 48 Abgeordnete einen Brief, den sogenannten „Letter of no confidence“, versenden. Dann kann die Fraktion über die Regierungschefin abstimmen.

Bislang sieht es zwar nicht danach aus, dass sich die Brextremisten durchsetzen und die zerstrittene Fraktion hinter einem Kandidaten versammeln könnten. Doch mit den ehemaligen Brexit-Ministern Dominic Raab und David Davis oder Ex-Außenminister Boris Johnson dürften sich hinter den Kulissen schon mögliche Nachfolger für einen innerparteilichen Wettbewerb in Stellung bringen. Er leite „keinen Coup“ ein, sagte Rees-Mogg. Stattdessen fordere er die Regierung auf, Brüssel mitzuteilen, dass das Königreich die Gemeinschaft ohne Deal verlassen werde.

Das für die Wirtschaft als Katastrophe angesehene Szenario könnte tatsächlich eintreten, sollte May bei der vermutlich Anfang oder Mitte Dezember stattfindenden Parlamentsabstimmung keine Mehrheit zusammenbekommen. Bislang sieht alles nach einer großen Niederlage für die Regierungschefin – und damit auch die EU – aus. Doch drei Wochen sind insbesondere in der britischen Politik fast schon eine Ewigkeit.

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