Kindersoldaten in Afrika Wenn Krieg aus Kindern Mörder macht

Bonn · Im Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik kämpften Tausende Minderjährige. Der General-Anzeiger hat einen Kindersoldaten getroffen.

 Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden allein in den Jahren 1990 bis 2000 etwa zwei Millionen Kindersoldaten getötet, sechs Millionen zu Invaliden, zehn Millionen trugen schwere seelische Schäden davon. Das Foto entstand in Liberia.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden allein in den Jahren 1990 bis 2000 etwa zwei Millionen Kindersoldaten getötet, sechs Millionen zu Invaliden, zehn Millionen trugen schwere seelische Schäden davon. Das Foto entstand in Liberia.

Foto: picture-alliance/ dpa

Als Ibrahim (Name geändert) mit 14 Jahren das erste Mal auf einen Menschen schoss, dachte er, dass er für seinen Gott kämpfe. Als er seine Kalaschnikow zweieinhalb Jahre später niederlegte, hoffte er, dass sein Gott ihm vergeben würde. „Ich habe Menschen getötet. Viele Menschen. Ich weiß nicht, wie viele. Ich weiß nur, dass ich schwere Schuld auf mich geladen habe.“ Wie Tausende andere Minderjährige war er Kindersoldat im Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik. Ein Kind als Opfer, ein Kind als Täter.

Ibrahim war zu Hause, als Kämpfer der christlichen Anti-Balaka-Miliz auf den Hof seiner Familie stürmten, seinem Vater vor den Augen des Sohnes die Kehle durchschnitten und das Haus niederbrannten. Monate zuvor hatten Mitglieder des muslimischen Seleka-Bündnisses in der 300 Kilometer südlich gelegenen Hauptstadt Bangui den christlichen Präsidenten Bozizé gestürzt. Daraufhin bildete sich die christliche Anti-Balaka-Miliz, die sich den Rebellen entgegenstellte. Im anschließenden Bürgerkrieg wurden Tausende getötet, Millionen mussten ihre Heimat verlassen.

Auch Ibrahim floh mit seiner Mutter, seinem jüngeren Bruder und seiner Tante in den muslimischen Tschad. „Meine Mutter ist dort vor Trauer verrückt geworden“, berichtet Ibrahim. Er selbst wollte nicht nur um seinen Vater trauern; er wollte ihn rächen, er wollte die Mörder seines Vaters töten! Also kehrte er gegen den Willen seiner Mutter heimlich in die Heimat zurück und schloss sich den Kämpfern der Seleka an.

Nach kurzem Training an der Kalaschnikow tötete Ibrahim sein erstes Opfer. „Wir mussten unseren Glauben und unsere Moscheen verteidigen. Außerdem hätten die Christen mich umgebracht, hätte ich mich nicht der Seleka angeschlossen. Ich hatte keine Wahl“, rechtfertigt er heute seine Taten.

Ibrahim ist einer von vielen

Mit seinen 14 Jahren war er nicht der Jüngste im Bataillon. Rund 150 Jungen, Mädchen, Frauen und Männer kämpften in der Einheit. Wie viele andere Kinder wurde Ibrahim oft an vorderster Front eingesetzt; verwundet wurde er wie durch ein Wunder nie.

„Ich war ein guter Soldat“, sagt Ibrahim. Als er im Schatten eines Baumes in Bangui von den schrecklichen Verbrechen berichtet, mahlen seine Kiefer nervös, laut lässt er die Gelenke seiner Finger knacken. Von seiner Vergangenheit zur erzählen, quält ihn. Nur als er sagt, dass er ein guter Soldat war, lächelt er kurz. Auch wenn er es nicht zugeben will, macht es ihn noch heute stolz, dass er im Krieg als unverwundbar galt.

Ibrahim glaubt, dass sein Grigri ihn während der Kämpfe beschützte. Das Totem mit dem von einem Marabout, einem islamischen Geistlichen, in eine bestickte Kuhhaut eingenähten Pulver hatte sein Vater ihm kurz vor seinem Tod geschenkt. Während der Kämpfe trug Ibrahim es am Oberarm. So erinnerte es ihn stets daran, dass er tötete, um seinen Vater zu rächen.

„Bevor wir in die Schlacht zogen, haben unsere Vorgesetzten uns rote und grüne Pillen aus Nigeria und Marihuana und Alkohol gegeben. Gegen die Angst. Ich brauchte aber keine Drogen. Ich hatte mein Grigri. Außerdem habe ich vor jedem Kampf gebetet, dass Gott mich in sein Paradies aufnimmt, falls ich doch getroffen werden sollte“, berichtet Ibrahim.

Angst vor dem Weglaufen

Während der Gefechte im Norden der Zentralafrikanischen Republik sah er viele seiner Kameraden sterben. Manche waren jünger als er, manche waren enge Freunde. „Im Krieg ist der Tod normal. Allah hat sie zu sich gerufen“, sagt Ibrahim – es soll stärker klingen als es tatsächlich klingt.

Mehrmals dachte er daran, einfach davon zu laufen. Aber versucht hat er es nie. Zum einen wusste er, dass auf Fahnenflucht der Tod stand, zum anderen hätte er nicht gewusst, wie er alleine hätte überleben sollen. „Meine Vorgesetzten haben mir immer Essen und Trinken gegeben, und meine Kameraden haben mich beschützt“, sagt der ehemalige Soldat.

Trotzdem entschloss er sich vor wenigen Monaten, nicht weiter zu kämpfen. „Nachdem ein Waffenstillstand geschlossen worden war, musste ich unseren Glauben und unsere Moscheen nicht mehr verteidigen“, sagt Ibrahim. Doch nachdem er seine Waffe abgegeben hatte, verspürte er Angst: „Meine Kalaschnikow hatte mir Macht verliehen, doch plötzlich war ich wieder ein Niemand und völlig schutzlos.“

Ohne Waffe versucht er seither, sich in Bangui in einem Leben zurechtzufinden, in dem es nicht nur darum geht, zu töten oder getötet zu werden. Für den Jugendlichen, dem eine Waffe die Kindheit raubte, ist das schwierig. Mit Gelegenheitsjobs versucht er, sich über Wasser zu halten. Mal belädt er einen Lastwagen, mal hilft er auf einer Baustelle aus. Doch meist findet er keine Arbeit und hat viel Zeit, über das nachzudenken, was die letzen Jahre aus ihm gemacht haben und was er aus den Jahren machte.

„Als ich loszog, um meinen Vater zu rächen, dachte ich, dass meine Mutter stolz auf mich sein würde. Heute weiß ich, dass sie es nicht war“, sagt Ibrahim. Als er die Waffe in die Hand nahm, dachte er, dass der Krieg einen Helden aus ihm machen würde. Heute weiß er, dass der Krieg nur Verlierer kennt.

Die Traumata bleiben

„Äußerlich haben mich die Kämpfe vielleicht stark gemacht, aber innerlich haben sie mich kaputt gemacht. Ich habe im Krieg nichts gelernt, was mir in meinem neuen Leben weiterhelfen kann. Jetzt weiß ich, dass Kinder nichts im Krieg verloren haben“, sagt der Junge, der nur sechs Jahre zur Schule ging. Was er im Krieg tat, soll in Bangui niemand erfahren. „Dann hätten die Leute Angst vor mir und ich würde nie eine Freundin finden“, sagt der Junge, der gerne Lastwagenfahrer werden möchte.

Bei diesem Wunsch will ihm jetzt eine Partnerorganisation der Deutschen Welthungerhilfe unterstützen. Die vom ehemaligen zentralafrikanischen Fußball-Nationalspieler und Nationaltrainer Anatole Koué gegründete Organisation „Les frères centrafricains“ will Ibrahim helfen, seinen Führerschein zu machen. „Beide Seiten haben im Krieg Kindersoldaten eingesetzt. Manche waren erst acht Jahre alt. Viele haben die Schule abgebrochen, weil sie kämpfen mussten. Aber jetzt hat der Staat kein Geld, um die traumatisierten Kinder zu behandeln und um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen“, sagt Koué.

Ibrahim weiß nicht, ob sich sein Traum vom Lastwagenfahren wirklich erfüllen wird. Doch eines weiß er ganz genau: Nie wieder will er eine Waffe in die Hand nehmen. „Alles ist besser, als zu töten oder getötet zu werden.“

Rudi Tarneden ist Sprecher der deutschen Unicef-Sektion. Seit mehr als 50 Jahren kämpft das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen weltweit gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Tarneden hat in Krisengebieten wie dem Irak, dem Südsudan und Afghanistan mit Kindern und Jugendlichen gesprochen und eine ehemalige Kindersoldatin aus Uganda begleitet. Er geht davon aus, dass allein in der Zentralafrikanischen Republik rund 10.000 Minderjährige gekämpft haben. „Viele von ihnen stehen noch immer unter Befehl und sind bislang nicht wieder in die Gesellschaft integriert.“

Eine gesamtafrikanische, eine weltweite Tragödie. „Unter anderem in Syrien, im Irak, in Libyen und im Jemen zerfallen derzeit Staaten. Dort werden immer mehr Kinder rekrutiert“, sagt Tarneden. „Zudem sind aktuell so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die Hälfte sind Kinder und Jugendliche; viele von ihnen sind im Krieg groß-geworden, haben ihre Eltern verloren. Sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen, die ihnen Schutz und Nahrung verspricht, erscheint vielen Waisen als einzige Überlebenschance.“

Der Unicef-Mitarbeiter weiß, dass nicht jeder Kindersoldat ein Killer mit Kalaschnikow in der Hand ist: „ Sie werden auch als Träger, Wächter, Köche, Spione und als Sexsklaven für erwachsene Kämpfer eingesetzt. Immer wieder werden sie an vorderster Front als Kanonenfutter verheizt oder – wie beispielsweise in Nigeria – als Selbstmordattentäter losgeschickt.“

Warum gibt es so viele Kindersoldaten?

Warum werden Kinder als Soldaten eingesetzt? Tarneden: „Deren Rekrutierung ist immer Ausdruck der Radikalisierung eines Konfliktes. Deshalb brüsten Terror-Organisationen wie Boko Haram oder der IS sich damit, dass sie bereits Achtjährige einsetzen. Die perfide Taktik soll Angst und Schrecken verbreiten und dem Gegner signalisieren: Ich halte mich an keine Regeln mehr, du musst mit dem Schlimmsten rechnen!

Zudem sind Minderjährige billiger als reguläre Soldaten. Kinder sind leicht zu beeinflussen, suchen Anerkennung, gehorchen aus Angst oder Bewunderung. Manchen erscheint ihr Einsatz zunächst wie ein großes Abenteuer. Meist werden sie schnell zu Tätern gemacht, damit der Weg zurück verbaut ist. Mitleid wird ihnen zudem systematisch abtrainiert.“

Tarneden weiß: Um wieder Teil der Gesellschaft zu werden, brauchen diese Kinder professionelle psychologische Unterstützung: „Sie müssen reflektieren, was ihnen angetan wurde und was sie selbst getan haben. Werden sie einfach sich selbst überlassen, kann es leicht passieren, dass sie sich erneut bewaffneten Gruppen anschließen oder in die Kriminalität abrutschen, da sie im Krieg gelernt haben, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie wollen.

Diese Jungen und Mädchen zurück an die Schulbank zu bringen, ist wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe. Deshalb unterstützt Unicef ehemalige Kindersoldaten unter anderem mit handwerklichen Ausbildungen, damit sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und ihren Platz in der Gesellschaft finden können.“

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