Nach Erdogan-Sieg im Parlament Will das türkische Volk das Präsidialsystem?

Ankara · Prügeleien, eine verlorene Armprothese, angeblich auch ein Biss ins Abgeordnetenbein: Am Ende von harten Auseinandersetzungen billigte das türkische Parlament Erdogans Präsidialsystem. Vor dem Systemwechsel steht die wichtigste Frage: Folgt das Volk Erdogan?

 Präsident Recep Tayyip Erdogan Mitte der Woche in Ankara.

Präsident Recep Tayyip Erdogan Mitte der Woche in Ankara.

Foto: Kayhan Ozer

Am Tag, an dem das türkische Parlament für seine eigene Entmachtung gestimmt hat, ist Staatschef Recep Tayyip Erdogan sichtlich gut gelaunt. "Ich gratuliere unserem Volk. Ich gratuliere unserem Land", sagte er vor einer jubelnden Menge bei der Eröffnung einer Metrostation in Istanbul.

Jetzt müsse das türkische Volk noch in einem Referendum abstimmen. "Und mit dieser endgültigen Entscheidung wird die Türkei einen neuen Aufschwung erreichen," sagte Erdogan.

Nur Stunden zuvor, am frühen Samstagmorgen, hatte das Parlament mit der notwendigen Dreifünftelmehrheit für eine Verfassungsänderung gestimmt. Mit der Reform, die noch durchs Referendum muss, stimmten die Abgeordneten für den tiefsten Einschnitt im politischen System seit Jahrzehnten: Für ein Präsidialsystem und eine Machtfülle für Erdogan, wie sie demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs selten haben.

Rund zwei Wochen stritten die Abgeordneten erbittert und das nicht nur verbal: Die Parlamentarierin Aylin Nazliaka kettete sich etwa aus Protest mit Handschellen ans Rednerpult. Daraufhin entbrannte eine wüste Schlägerei zwischen Parlamentarierinnen der Opposition und der AKP-Regierungsfraktion, eine Abgeordnete verlor ihre Armprothese. Bei einer anderen Sitzung soll ein Abgeordneter der Opposition seinem Rivalen aus der AKP ins Bein gebissen haben.

Am Ende setzte sich derjenige durch, der zumindest physisch gar nicht bei den Debatten anwesend war: Erdogan, der heimliche Anführer der islamisch-konservativen AKP. Bald dürfte er der Partei auch formal wieder vorstehen. Bislang verbietet die Verfassung dem Präsidenten, einer Partei anzugehören. Das wäre wieder möglich, sollte sich das Volk ebenfalls für die Verfassungsreform und damit das Präsidialsystem entscheiden. Damit wäre unter anderem auch das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft.

Dass die für die Reform nötige Dreifünftelmehrheit im Parlament erreicht wurde, ist ein Beweis für Erdogans riesigen Einfluss: Ihm ist es gelungen, Teile der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP auf seine Seite zu ziehen.

Aus Sicht Erdogans ist das Präsidialsystem nötig, damit er das unter Terror und innerer Zerrissenheit leidende Land wieder in ruhige Fahrwasser steuern und für Sicherheit sorgen kann.

Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, dagegen, denkt genau das Gegenteil. Die Zukunft des türkischen Volkes werde durch die Reform gefährdet und lediglich die Zukunft Erdogans gesichert, sagte er in Ankara nach der Abstimmung. Es sei eine "Katastrophe", wenn eine Person die gesamte Macht erhalte. Den Erdogan folgenden Abgeordneten warf er "Verrat" an der Geschichte des Parlaments vor. Sie hätten ihre "eigenen Machtbefugnisse" an den Präsidenten abgetreten.

Der Chef der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu, ist ebenfalls davon überzeugt, dass der Systemwechsel zu "Instabilität und Chaos" führen würde. Er vergleicht das Präsidialsystem mit einer Herrschaftsform, mit der die Türkei in ihrer osmanischen Vergangenheit jahrhundertelange Erfahrung gemacht hat: "Das nennt sich Sultanat."

Theoretisch könnte Erdogan länger an der Macht bleiben als viele der osmanischen Sultane. Dabei hatte die AKP in ihrer Anfangszeit unter Erdogan eingeführt, dass Amtsperioden auf maximal drei begrenzt sind. An die Buchstaben dieses Parteistatuts hat Erdogan sich stets gehalten: Von 2003 bis 2014 war er drei Mal Ministerpräsident, dann ließ er sich zum Staatschef wählen. Macht und Einfluss nahm er einfach in das neue Amt mit, auch wenn die Verfassung das so nicht vorsah.

In die Reform hat die AKP eine Klausel eingebaut, die Erdogan unter Umständen ermöglichen könnte, die Geschicke der Türkei bis 2034 zu bestimmen. Dann wäre er 80 Jahre alt - und mehr als 30 Jahre an der Macht.

Dass sich die Verfassung nach Erdogans Ansicht an ihn anpassen müsse und nicht etwa umgekehrt, hatte er schon im Sommer 2015 sehr deutlich gemacht. "Ob man es akzeptiert oder nicht", das Führungssystem in der Türkei habe sich geändert. Nun müsse man die Verfassung noch der "de-facto Situation" anpassen, sagte er schon damals. Billigt das Volk die Verfassungsreform im Frühjahr, ist Erdogan damit erstmal am Ziel.

Der Staatschef ist zuversichtlich, dass eine Mehrheit ihm auf seinem Kurs folgt. Schon jetzt ruft er seine Anhänger zur Wahlkampagne auf. Sie sollten sich "ordentlich ins Zeug legen", sagte er.

Die Abstimmung am Tag des Referendums mag dann zwar weitgehend frei und fair verlaufen. Beim Wahlkampf aber sind Zweifel angebracht. Zahlreiche kritische Medien wurden geschlossen. Fernsehsender, die noch nicht völlig auf Regierungslinie sind, übertragen schon jetzt jede einzelne der vielen Ansprachen Erdogans live und in voller Länge. In staatsnahen Medien gibt es keinerlei sachliche Auseinandersetzung mit der Opposition.

Vor allem finden der Wahlkampf und womöglich auch das Referendum im Ausnahmezustand statt, den Erdogan nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt hat - und der kürzlich bis zum 19. April verlängert wurde. Zehntausende Menschen sind festgenommen worden, fast 100 000 Staatsbedienstete wurden entlassen. Regierungsgegner sind mit öffentlicher Kritik sehr vorsichtig geworden.

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