In der Nacht des Schreckens eskaliert der Kurdenkonflikt "Wir fordern ein Massaker"

ISTANBUL · Noch am Mittag schien die Welt in Ordnung zu sein in Kirsehir, einer Kleinstadt in der Mitte der Türkei. In der Schulstraße betrachteten Mütter die bunten Kinderrucksäcke, die von der Rosen-Buchhandlung zum Schulbeginn angeboten wurden. Aus einer Imbissbude duftete es nach Fleischbällchen, die Konditorei daneben stellte ihre Kuchen aus.

Doch kurz vor Sonnenuntergang brach in Kirsehir wie in Hunderten Orten der Türkei das dünne Eis ein, auf dem der türkische Gesellschaftsfrieden gebaut war. Jetzt ist nichts mehr in Ordnung in Kirsehir und der Türkei. Und die Rosen-Buchhandlung gibt es nicht mehr.

Um 19 Uhr beginnt zeitgleich in allen 81 Provinzen der Türkei die Nacht des Schreckens. Für diese Zeit hat der Jugendverband der Nationalistenpartei MHP zu landesweiten Protesten gegen die Anschläge der kurdischen Rebellenorganisation PKK aufgerufen, denen in den letzten drei Tagen mindestens 30 Polizisten und Soldaten zum Opfer gefallen sind. Der Abgeordnete der legalen Kurdenpartei HDP, Ertugrul Kürkuçu, spricht hinterher von "Erdogans Kristallnacht" - in Anlehnung an die von den Nazis gesteuerten antijüdischen Pogrome 1938.

In Kirsehir beginnen die Proteste mit einem Sturm von 4000 Nationalisten auf das HDP-Büro. "Nieder mit der PKK", skandieren die fahnenschwenkenden Demonstranten, begleitet von einem hupenden Autokonvoi. Rasch hat die Menge das Gebäude gestürmt, das Schild mit dem Parteiemblem zertrümmert und eine riesiege türkische Fahne aufgehängt. Einen Augenblick hält der Mob inne - dann greift er die Geschäfte auf der anderen Straßenseite an.

Klirrend zerbersten die Scheiben der Buchhandlung, dann fliegen Brandsätze in den Laden, in dem Buchhändler Sait Akilli mit zwei Mitarbeitern und seinem Onkel ausharrt. Von den auflodernden Flammen hinaus gezwungen, werden die Männer vom tobenden Mob erwartet, der mit Knüppeln und Hacken auf sie einschlägt.

Mit gebrochener Nase und einer Platzwunde am Kopf kann Akilli entkommen, seinem Onkel werden die Rippen gebrochen. Der Mob wendet sich den nächsten Geschäften zu und brennt Konditorei, Imbissstube und Boutique nieder, bevor er die Fahnen einrollt und sich zufrieden trollt.

Überall in der Türkei spielen sich in der Nacht ähnliche Szenen ab. "Wohl dem, der wahrer Türke ist" und "Rache, Rache" skandieren Hunderttausende nationalistische Demonstranten bei Fackelzügen, Protestmärschen und Autokonvois. In mehr als 400 Orten werden HDP-Parteibüros angegriffen, geplündert oder niedergebrannt - in Ankara sehen vier Verkehrspolizisten ungerührt zu, wie der Mob den Sitz der drittstärksten Partei im türkischen Parlament anzündet. In Istanbul wird die Redaktion der Zeitung "Hürriyet" belagert und angegriffen, weil die Journalisten angeblich falsch über Staatschef Recep Tayyip Erdogan berichtet hätten. Tausende fahnenschwenkende Jugendliche marschieren mit Fackeln durch Istanbul und grölen: "Uns reicht kein Militärangriff (auf die PKK), wir fordern ein Massaker!"

Rassistische Angriffe eskalieren schon seit Tagen in der Türkei - seit die PKK am Sonntag und Dienstag mehrere Wagen voller türkischer Polizisten und Soldaten in die Luft gejagt hat. In Istanbul wird ein junger Kurde von türkischen Nationalisten erstochen, weil er vor ihrem Kaffeehaus auf Kurdisch telefonierte.

Druck auf die HDP kommt auch von der PKK, die mit dem Neubeginn ihrer Angriffe im Juli die Spirale der Gewalt überhaupt erst in Gang gesetzt hat. Am Morgen nach der "Kristallnacht" schaltet auch HDP-Chef Selahattin Demirtas einen Gang höher und ruft seine Anhänger zur Gegengewalt auf. Rechtsnationalisten würden ab jetzt ihr blaues Wunder erleben, kündigt er an.

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