GA-Interview mit Reinhard Erös "Wir wollen unseren König wiederhaben"

Der Entwicklungshelfer, Arzt und frühere Bundeswehrsoldat Reinhard Erös gilt als einer der besten deutschen Kenner Afghanistans. Am Rande einer Veranstaltung des Bonner Gustav-Stresemann-Instituts sprach mit ihm Bernd Eyermann.

 Ein bayerischer Paschtune: Reinhard Erös erklärt Stammes- und Dorfältesten im Jahr 2012 in der Provinz Laghman, dass er vorhabe, eine Universität zu bauen, an der erstmals Frauen Journalismus studieren könnten. "Das war ein langwieriges, aber erfolgreiches Gespräch", sagt Erös heute.

Ein bayerischer Paschtune: Reinhard Erös erklärt Stammes- und Dorfältesten im Jahr 2012 in der Provinz Laghman, dass er vorhabe, eine Universität zu bauen, an der erstmals Frauen Journalismus studieren könnten. "Das war ein langwieriges, aber erfolgreiches Gespräch", sagt Erös heute.

Foto: Privat

Welchen Eindruck haben Sie von der Situation in Afghanistan?
Reinhard Erös: Im Vergleich zu den Jahren 2002 bis 2010 ist die Lage deutlich unsicherer geworden, der wirtschaftliche Aufschwung und die fast euphorische Stimmung in der Bevölkerung in den ersten Jahren von Isaf sind verschwunden. Ausländer sind kaum mehr zu sehen. Die Präsidentenwahlen im vergangenen Jahr haben daran wenig geändert.

Es hat kein eindeutiges Ergebnis gegeben.
Erös: Die Hauptkonkurrenten Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah haben sich darauf geeinigt, dass es de facto zwei Präsidenten gibt. Das ist typisch afghanisch.

Ist das eine gute Lösung?
Erös: Für Afghanistan eigentlich keine schlechte. Die afghanische Art der "Demokratie", ein extensives Konsensdenken, hat schon seine Vorzüge: Man einigt sich "irgendwann". Afghanen haben Zeit.

Eine Regierung gibt es aber immer noch nicht.
Erös: Kein Verteidigungs-, Innen-, Finanz- oder Wirtschaftsminister, das ist problematisch. Der Afghane will schon wissen, wer der Mächtige ist, an wen er sich wenden kann und wer der Schuldige ist, wenn etwas nicht klappt. Aber das Parlament hat den vorgelegten Ministerlisten noch immer nicht zugestimmt.

Ist die fehlende Regierung ein Problem, das dazu führt, dass die Taliban wieder Auftrieb bekommen und mit Anschlägen auf sich aufmerksam machen?
Erös: Das ist eigentlich das geringere Problem. Natürlich gibt es schon mal einen Sprengstoffanschlag, aber davon wird die normale Bevölkerung kaum betroffen. Das größere Problem ist der starke Anstieg der klassischen Straßenkriminalität. Es gibt viele Überfälle, Diebstähle, Entführungen, Erpressungen, Morde. Der Polizeipräsident von Nangahar, der wirtschaftlich stärksten Region, hat mir erzählt, dass die Kriminalität in den letzten drei Jahren um den Faktor fünf gewachsen ist. Daran sind auch die Taliban beteiligt, die sich von einer früher vorwiegend "religiös" bestimmten Politik zunehmend zu einer kriminellen Vereinigung verändert haben.

Warum hat die Kriminalität so zugenommen?
Erös: Weil Stabilität im Land fehlt. Und weil die Afghanen zu ihren eigenen Sicherheitsbehörden - insbesondere zur Polizei - kaum Vertrauen haben. Sie gilt als korrupt, inkompetent und kriminell. Und daran ist auch eine verfehlte deutsche Politik schuldig.

Was kritisieren Sie?
Erös: Der Westen hat für die Afghanen 2001 auf dem Petersberg beschlossen: Ihr bekommt ein Präsidialsystem wie in Amerika. Das passte aber nicht. Afghanistan ist historisch - um ein Wort aus dem Westen zu benutzen - ein extrem föderalistisches Staatsgebilde. Die 34 Provinzen mit den 30 Millionen Menschen sind von der Sprache und den Völkern sehr unterschiedlich, fast wie in Europa. Hier wäre es ja auch schwierig, wenn Dänen, Italiener, Portugiesen und Polen eine gemeinsame Zentralregierung bilden müssten.

Was wollen denn die Afghanen in ihrer Mehrheit?
Erös: Als bayerischer Paschtune würde ich sagen: "Wir wollen unseren König wiederhaben". Im Ernst: Die Mehrheit der Afghanen wünscht sich an der Staatsspitze einen weisen Mann, einen wie den verstorbenen Richard von Weizsäcker, der das Land nach außen positiv darstellt, sich aber nicht in die aktuelle Tagespolitik einmischt. Die sollte dann wie früher dezentral von und in den Provinzen gemacht werden.

Wie ist die Perspektive für das Land?
Erös: Der bayerische "Philosoph" Karl Valentin hat einmal gekalauert: "Prognosen sind ausgesprochen problematisch. Fast unmöglich sind sie, wenn sie die Zukunft betreffen." Eine Wiederkehr des klassischen Talibanregimes von 1995 bis 2001 mit der Brutalität der exzessiven Scharia-Auslegung nach saudi-arabischer Art halte ich für unmöglich. Ich befürchte auch nicht einen landesweiten Bürger- oder Bruderkrieg wie nach dem Abzug der Russen.

Und was halten Sie für wahrscheinlich?
Erös: Im Süden, wo die Amerikaner stationiert sind, haben wir einen hoch mafiös strukturierten kriminellen Narkostaat. Den dortigen Drogenbaronen und ihren staatlichen Unterstützern bleiben nach der Weiterverarbeitung von Rohopium zu Heroin jährlich mehrere Milliarden Euro. Es ist also viel Geld vorhanden. Entweder man bekämpft massiv den Schlafmohnanbau oder man bringt die Drogenbarone dazu, einen kleineren Profit zu akzeptieren und hilft ihnen, langfristig als "Geschäftsführer" in eine legale Medikamentenindustrie einzusteigen und zum Beispiel aus dem Rohopium statt Heroin medizinisches Morphium und Kodein herzustellen.

Ist das denn realistisch?
Erös: Derzeit habe ich den Eindruck, dass die Amerikaner das nicht wollen, weil die Drogen aus Afghanistan eher ein europäisches Problem sind und sie ihre amerikanische Medikamentenindustrie schützen wollen. Aber wenn sie die Drogeneinnahmen nicht reduzieren, wird Afghanistan auf Dauer eine schwärende Wunde sein. Das Geld muss ja irgendwohin. Weil man nicht alles in Dubai anlegen kann, wird es in den Waffenhandel gehen und zur Finanzierung des islamistischen Terrors beitragen.

Wo sehen Sie künftig Aufgaben Deutschlands in Afghanistan?
Erös: Wir sind mit dafür verantwortlich, dass die Korruption das Land so durchdrungen hat wie kaum ein anderes auf der Welt. Denn wir haben 2001 nach Petersberg - trotz unserer vollmundigen Erklärung "Deutschland ist "lead nation" bei der Polizeiausbildung" - zu wenig Herzblut, Geld und Manpower in die Ausbildung von Polizisten gesteckt. Wir haben 2001 nicht erkannt, dass Polizei und Justiz eine Schlüsselrolle spielen.

Und mit dem Blick in die Zukunft?
Erös: Von allen Ausländern im Land haben wir Deutsche immer noch das höchste Ansehen. Das sollten wir nutzen. Aber nicht, in dem wir einfach Geld dort abliefern. Die Bundesregierung muss mitreden und mitentscheiden, was etwa mit den 400 Millionen Euro gemacht wird, die sie jetzt dort in die Entwicklungshilfe stecken will. Ein Euro ist dort vom Lohngefüge mit dem Faktor 30 zu multiplizieren. Es stehen quasi zwölf Milliarden bereit.

Was stellen Sie sich vor?
Erös: Den Norden haben wir mit deutscher Gründlichkeit und deutschem Geld ganz gut ausgebaut. Und auch in Kabul haben wir uns engagiert. Jetzt müssten wir uns vor allem im Südosten des Landes in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Landwirtschaft engagieren, in einer Gegend, wo wir uns bis 1979 entwicklungspolitisch vorbildlich eingebracht haben.

Zur Person

Mit ihrer Kinderhilfe Afghanistan arbeiten Reinhard undAnnette Erös gemeinsam mit ihren fünf erwachsenen Kindern seit 2002im Paschtunengebiet im Osten Afghanistans und seit drei Jahren auchin den Paschtunengebieten Pakistans am Aufbau vonBildungseinrichtungen. Sie nahmen inzwischen - ausschließlich mitprivaten Spenden finanziert - mehrere Dutzend Schulen in Betriebund am 3. Oktober vorigen Jahres die erste Universität. ReinhardErös ist 66 Jahre alt und lebt mit seiner Familie im LandkreisRegensburg.

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