Die Nato wird 70 Wohin steuert das größte Militärbündnis der Welt?

Die Nato feiert ihren 70. Geburtstag eher klein und bescheiden. Bloß keine Grundsatzdiskussionen, bloß kein Streit. Wohin steuert das größte Militärbündnis der Welt?

 Ein von der Nato zur Verfügung gestelltes Foto zeigt deutsche Soldaten von der sogenannten Very High Readiness Joint Task Force der Nato beim Überqueren eines Flusses.

Ein von der Nato zur Verfügung gestelltes Foto zeigt deutsche Soldaten von der sogenannten Very High Readiness Joint Task Force der Nato beim Überqueren eines Flusses.

Foto: picture alliance/dpa/sgt marc-andré gaudreault

Die Geburtstagsgesellschaft geht mit dem Jubilar nicht zimperlich um. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hält die Nato für „hirntot“. Sein US-amerikanischer Amtskollege Donald Trump nannte die Allianz schon mal „obsolet“. Wenn die nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft am heutigen Dienstag in London mit einem Gala-Dinner bei Königin Elisabeth II. ihren 70. Gründungstag begeht, herrscht sicherlich keine Feierstimmung.

Dabei wird dem Bündnis von vielen Seiten eine historische Leistung bescheinigt: Immerhin gelang es, sieben Jahrzehnte den Krieg aus Europa fernzuhalten – zumindest weitgehend. Als die Allianz 1949 zu den Klängen der
George-Gershwin-Oper „Porgy and Bess“ aus der Taufe gehoben wurde, hatte US-Präsident Harry S. Truman noch ein ganz anderes Ziel. Für die nächsten zehn Jahre sollte der Pakt halten, der mit Artikel 5, der Beistandsverpflichtung, nach dem Musketier-Prinzip „Alle für einen, einer für alle“ funktionierte. Dann, so Truman damals, sollten die Mitgliedstaaten wieder die Verantwortung für sich selbst übernehmen.

Es war die Zeit nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Der sowjetische Diktator Josef Stalin unterzog den späteren Ostblock einer gnadenlosen Sowjetisierung. Aus von den Nazis befreiten Ostmitteleuropäern wurden Satelliten-Staaten. Die Nato, so ihr erster Generalsekretär Lord Hastings Ismay, wurde 1949 gegründet, um „die Russen draußen, die Amerikaner drin und die Deutschen unten zu halten“.

Nachdem die Kuba-Krise die Welt 1962 an den Rand eines Atomkriegs geführt hatte, eskalierten die Bemühungen um das Gleichgewicht des Schreckens. Doch diese Eskalation konnte nicht verhindern, dass die Nato ihre eigenen Krisen pflegte. US-Präsident John F. Kennedy beklagte sich bereits 1963 darüber, dass die Europäer zu wenig für ihre eigene Verteidigung bezahlten. Frankreich scherte bereits 1959 aus der Militärstruktur aus. Auf den Straßen in Europa wuchs der Widerstand gegen das Bündnis, das in den Jahren ab 1970 auch auf europäischem Boden aufrüstete und Mittelstreckenraketen installierte – als Antwort auf die sowjetischen SS-20.

Als 1989 zuerst die Berliner Mauer und anschließend der Ostblock implodierte, rutschte die Allianz in die nächste Sinnkrise. So holte der damalige Nato-Generalsekretär Manfred Wörner an einem Tag die Mitarbeiter in der Cafeteria des Brüsseler Hauptquartiers zusammen, um ihnen zu versichern, dass sich niemand einen neuen Job suchen müsse. Tatsächlich begann die Allianz zu wachsen: Ehemalige Ostblock-Staaten schlüpften unter das Dach des Bündnisses – zum Ärger Russlands.

Das Jahr 1999 wurde zum erneuten Wendepunkt: Nach Berichten ethnischer Säuberungen und Massakern im Kosovo griff die Allianz auf dem Balkan ein. Da stand die Nato noch zusammen. Im Jahr 2003 zerfiel sie, als die USA den Irak-Krieg begannen – und Deutschland sowie Frankreich sich nicht beteiligten. Dafür blieben beide lange an der Seite der Vereinigten Staaten in Afghanistan. Erst 2014 fand sich das Bündnis wieder zusammen – als Reaktion auf die Annektion der Krim durch Russland und die Beteiligung der Moskauer Streitkräfte am Krieg in der Ostukraine.

Der sogenannte Jubiläumsgipfel an diesem Dienstag ist keines der üblichen Treffen: Abendessen, Empfang und eine kurze Arbeitssitzung – das war’s. Mehr ist in London nicht geplant. Schon gar keine Grundsatzdiskussion. Die internationale Sicherheitsarchitektur, so verbreiten die Strategen in Mons etwa 50 Kilometer westlich von Brüssel, wo das militärische Hauptquartier der Allianz untergebracht ist, sei „brüchig“ geworden. Eine Neuauflage des inzwischen ausgelaufenen INF-Vertrags für Mittelstreckenwaffen werde eher „ohne Begeisterung“ fortgeführt, weil auch in der Nato-Chefetage jeder weiß, dass die Welt nicht mehr bipolar nach dem Motto „USA gegen Russland“ funktioniere.

China als neue Herausforderung

Die gewaltigen Rüstungsanstrengungen Chinas, Indiens, Saudi-Arabiens oder der Türkei führen zu neuen Herausforderungen. Mit dem Krieg im Cyberspace gibt es neue Vernichtungsmöglichkeiten, weil jeder die zivilen Lebensadern anderer attackieren kann. Und doch arbeitet das Bündnis nahezu reibungsfrei weiter – militärisch. Experten sprechen schon von zwei Natos: eben jener gut geschmierten Militär-Allianz, die ihre Einsätze professionell geplant abwickelt und Missionen durchführt. Und dann ist da noch die politische Nato, in der geschimpft, kritisiert und gebremst werde. Das liege, so heißt es in Brüssel, nicht zuletzt daran, dass die Allianz „ihr Herz“ verloren habe.

In der Zeit ihrer Gründung vor 70 Jahren ging es den Vätern des Paktes um den Schutz der Demokratie, der Verteidigung der Menschenrechte und anderer Werte. Heute vereint das Bündnis Staaten, die diesen gemeinsamen Nenner nicht mehr haben. Das Mitglied Türkei ist sicherlich kein freiheitlicher Rechtsstaat und paktiert außerdem in Syrien und bei Militärprojekten mit dem früheren Erzfeind Russland. Und auch Trump wird von den westlichen Verbündeten eher als Zerstörer denn als Bewahrer dessen wahrgenommen, was früher als westliche Werte bezeichnet wurde.

So sitzt denn in London auch eine Gemeinschaft von Staats- und Regierungschefs zusammen, die zwar ahnen, dass sie ihr Erbe des gegenseitigen Beistands nicht verraten dürfen, die aber andererseits noch rätseln, wie die künftige Verteilung zwischen gemeinsamer Verantwortung und eigener Sicherheit sein soll. Das von Macron oft benutzte Schlagwort von der „strategischen Autonomie“ erscheint vielen jedenfalls ein Konzept zu sein, das nicht eint, sondern trennt.

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