Rentensystem in Frankreich Behutsame Reform

PARIS · Bloß nicht die ohnehin gereizten Bürger aufbringen, auf keinen Fall den geballten Unmut der Gewerkschaften provozieren und doch vermitteln, dass man ein tiefgreifendes Projekt angeht: Diesen Drahtseilakt versucht die französische Regierung bei der Vorbereitung ihrer Rentenreform. Ab 18. September wird das Kabinett darüber beraten, wie das drohende Loch von 20 Milliarden Euro in der Rentenkasse im Jahr 2020 verhindert werden soll. Die EU-Kommission gab Frankreich zwei Jahre mehr Zeit, das Defizit auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken (in diesem Jahr erreicht es laut IWF-Prognose 3,9 Prozent) - wenn es im Gegenzug Strukturreformen angeht.

Dabei geht die Regierung so behutsam wie möglich vor, auch angesichts der Kommunalwahlen in gut einem halben Jahr. Premierminister Jean-Marc Ayrault schloss in den Fernseh-Hauptnachrichten ein späteres Renteneintrittsalter, das vielen als rotes Tuch gilt, aus: Eine Anhebung der jetzigen 62 Jahre komme nicht in Frage, sagte er. Entschieden sei aber noch nichts. "Ich will erst die Sozialpartner anhören." Seit gestern empfängt der Regierungschef in einem zweitägigen Beratungs-Marathon acht Arbeitnehmer- und drei Arbeitgebervereinigungen.

Mithilfe dieser langwierigen Gespräche will die Regierung monatelange Proteste wie vor drei Jahren verhindern, als das Renteneintrittsalter unter Nicolas Sarkozy von 60 auf 62 Jahre angehoben wurde. Zwar steht längst fest, dass dessen Reform nicht ausreichte, um einen Kollaps des Systems in wenigen Jahren zu vermeiden. Doch die Rente ist ein explosives Thema in Frankreich. Die Anti-Bewegung war 2010 auch deshalb so stark, weil die Gewerkschaften die Reform vereint bekämpften. Auch die jetzt regierenden Sozialisten schlossen sich an, was ihr jetziges Reformvorhaben umso heikler macht. Dieses Mal sind die Gewerkschaften allerdings geteilt: Während die radikaleren Gruppen bereits einen landesweiten Streiktag für den 10. September ankündigen, wollen die gemäßigten Vereinigungen erst mit der Regierung verhandeln und möglichst viele Forderungen durchsetzen. Dazu gehören Rentenansprüche für Jugendliche in der Ausbildung, ein Ende der Benachteiligung von Müttern und mehr Berücksichtigung "beschwerlicher" Beschäftigungen.

Ayrault hat angekündigt, die Reform müsse so gerecht wie möglich sein und jeder einen Anteil leisten. Verzichtet wird aber wohl auf Einschnitte bei den Pensionen oder ein gleiches Berechnungssystem für Angestellte beim Staat und in der Privatwirtschaft.

Als wahrscheinlich gilt eine schrittweise Verlängerung der Einzahldauer der Beiträge von derzeit 41,5 auf 43 oder 44 Jahre, um die volle Rente zu erhalten, außerdem eine Erhöhung der Sozialabgaben oder der Sondersteuer CSG auf Einkommen aus Arbeit und Kapital. Bereits ein Prozentpunkt mehr könnte zwölf Milliarden Euro einbringen, heißt es. Die Gegner warnen vor einer weiteren Schwächung der Kaufkraft der Franzosen. Diese leiden ohnehin an einer überdurchschnittlich hohen Steuer- und Abgabenlast. Die Steuern in Frankreich hätten "eine kritische Schwelle" erreicht, erklärte jetzt EU-Währungskommissar Olli Rehn. Auch die Unternehmen können nur bedingt weiter zur Kasse gebeten werden, nachdem gerade Maßnahmen beschlossen wurden, um sie zu entlasten .

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