Bericht eines unfreiwilligen Selbstversuchs Reise durch das deutsche Gesundheitssystem

Berlin · Eine Reise durch das deutsche Gesundheitssystem: Nach einem unfreiwilligen Selbstversuch berichtet GA-Reporter Holger Möhle über das globalisierte Leben im scharf gerechneten Klinikalltag.

 Nach der Operation: Ein Mediziner-Team fährt einen Patienten durch den Klinikflur.

Nach der Operation: Ein Mediziner-Team fährt einen Patienten durch den Klinikflur.

Foto: picture alliance / dpa/Felix Kästle

Plötzlich bin ich raus. Raus aus dem Hochgeschwindigkeitsleben. In weniger als einer Sekunde bin ich unten – in jeder Hinsicht. Drei Meter Sturz in die Tiefe. Aufprall auf hartem Betonboden. Ein Schrei. Dann Stille. Ich kann kaum noch atmen. Irgendwas ist gebrochen. Ich weiß nur noch nicht was. Der Ausdauerläufer denkt sofort an seine Beine.

Die Beine! Funktionieren die Beine noch? Ängstlicher Versuch. Doch, sie lassen sich noch bewegen. Meine Frau hält meinen Kopf. Keine Verletzung im Gesicht, und wohl auch nicht an der Wirbelsäule, was in diesem ersten Moment aber noch nicht klar ist. Schweißausbruch, mein Kreislauf geht nach unten, stabilisiert sich aber wieder. Ich sehe aus dem Augenwinkel einen Sack roten Fugenmörtel. Er ist aufgeplatzt, meine Kleidung rot eingestaubt. Wahrscheinlich hat er mir das Leben gerettet. 39,95 Euro gegen ein Leben. Ein unfassbarer Handel des Schicksals.

Gedanken rasen. Die Sanitäter heben mich von der Trage auf den Untersuchungstisch. Es ist Sonntagnacht. Eine Stunde nach dem Tatort. Die diensthabende Ärztin könnte sofort in jedem Krimi mitspielen. Trockener Humor, krause Mimik, Laufschuhe, blonder Pferdeschwanz. Sie zählt die gebrochenen Rippen: „Oooh, eins, zwei, drei, vier, fünf, nein, weiter kann ich auf dem Bild nicht sehen. Was haben Sie gemacht? Haben Sie Osteoporose?“ Am Ende sind acht Rippen gebrochen. Sie entdeckt einen Pneumothorax, der Raum zwischen Rippen und Lunge hat sich mit Luft gefüllt. Die linke Lunge ist kollabiert. Not-OP. „Klingt jetzt blöd, denn für den Patienten ist das echt fies, aber ich mache das richtig gerne“, sagt die junge Ärztin aus dem Tatort. Ich nicke. Na dann…

Sie fahren den Patienten, für den „echt fies“ wird, was gleich kommt, auf die Intensivstation. Die Bewegung von der Rettungstrage auf das OP-Bett – für mich nicht mehr möglich. Sie hieven mich zu viert auf das Bett. Für einen Moment fühle ich, als bräche mein Körper auseinander. Die Ärzte geben Opiate gegen die Schmerzen.

Dann eine lokale Betäubung, ein Schnitt von der Ärztin, die jetzt an ihrem eigenen Tatort ermittelt, dann sitzt der Schlauch, der die Luft aus dem Zwischenraum, wo sie nicht hingehört, wieder abführen soll. Erster Befund: Die Lunge ist wieder stabil. Zweiter Befund: Die Intensivmedizin funktioniert.

Es beginnt für mich eine wochenlange Reise durch das deutsche Gesundheitssystem. Willkommen in der Globalisierung. In der Welt der knapp gehaltenen Kassen, in der Welt der Ein- (nur auf der Intensivstation), der Zwei-, Drei- und auch Vier-Bett-Zimmer.

Der Physiotherapeut kommt aus der Ukraine. Die Ärzte kommen aus Spanien, aus dem Irak, aus Ägypten, aus Rumänien, aus Polen, Österreich will man kaum noch erwähnen – und sogar aus Deutschland. Nachts kann ich wegen der Schmerzen kaum liegen, folglich auch nicht schlafen. Die Schnarcher im Zimmer hören nicht, wenn ich mit dem Pfleger spreche, der ausnahmsweise Zeit hat.

Ich spreche mit ihm über ein neues Gesetz von Minister Jens Spahn zur Patientenuntergrenze. Nur noch zehn Patienten statt vorher 15 Patienten sollen pro Pfleger oder Schwester auf der Normalstation betreut werden. Ist doch gut, oder? Der Pfleger winkt auf jut Berlinisch ab: „Na wat globn Sie, wat die Jeschäftsführung jemacht hat? Haben uns die Pflegehelfer jestrichen. Is‘ ja jetze mehr Zeit, wa?“ Die Politik macht neue Gesetze – zum Schutze von Pfleger und Patienten. Das Klinikmanagement macht sich die Zahlen passend. Pflegehelfer, die Patienten gesalbt, gebettet, für eine Behandlung vorbereitet haben, braucht es da nicht mehr. Die Pfleger haben ja jetzt mehr Zeit.

Dafür prallen Welten aufeinander. Auch eine Erscheinung des scharf gerechneten Klinik-Alltags. In allen Zimmern rechts auf dem Gang liegen die chirurgischen Patienten, in den Zimmern links sind die Altersvergesslichen und Dementen untergebracht. Der Gang ist die Grenze zwischen denen, die vermutlich ins normale Leben, ins Berufsleben zurück können, und jenen, um die sich eine Gesellschaft dauerhaft kümmern muss. Eine Frau verteidigt ihren gefüllten Urinbeutel, der geleert werden müsste, gegen einen Pfleger und eine Schwester. Sie will sich ihre „Handtasche“ nicht von diesen zwei Fremden stehlen lassen. Am Ende entscheidet die Körperkraft: Der Urinbeutel wird geleert. Die Frau bekommt ihre „Handtasche“ wieder.

In meinem Zimmer liegt Herr B., 71 Jahre, schwerer Pflegefall, hüftkrank. Er braucht Rundumbetreuung. Ihm muss Essen gegeben werden, er kann die Gabel kaum halten, ihm muss die Schnabeltasse beim Trinken zum Mund geführt, er muss gewindelt und gewendet werden. Auch bei maximal noch zehn Patienten pro Pfleger (auf dem Papier), reicht ein Patient wie Herr B., um den Zeitrahmen im Stationsalltag zu sprengen. Herr B. drückt jede halbe Stunde auf die Klingel. Er kann sich nicht anders helfen. Die Schwestern sagen, im Altenpflegeheim könnte er noch so oft drücken, da würden sie ihn liegen lassen. Trotzdem: „Herr B., so geht das nicht, wir haben noch andere Patienten.“ Herr B. protestiert: Was soll ich denn machen?

Ein Pfleger erzählt, ein- bis zweimal im Monat gehe er an freien Tagen in ein Altenpflegeheim zum Arbeiten. Auf Leasingbasis – wie die meisten anderen Pfleger, die sich dort um alte Menschen kümmerten. „Wir haben da 30 Patienten pro Pflegekraft. Das schaffst Du nicht mehr.“ Er sagt, der Mangel habe System. Möglichst viel Geld aus Alter und Krankheit pressen, das wollten viele Betreiber von Pflegeheimen. „Oft gibt es nur zwei oder drei fest angestellte Pfleger. Der Rest ist Leasing.“

Ich komme in eine Schmerzklinik. Viele Patienten, die sich hierher einweisen lassen, sind Menschen, die seit langer Zeit von chronischen Schmerzen gepeinigt werden. Andere sind gerade erst Mitte 30 oder Anfang 40 und schon früh „EU-Rentner“, wie die Erwerbsunfähigkeits-Rentner hier im Klinik-Jargon genannt werden. Teilweise schaffen sie das schnelle Leben da draußen in der globalisierten Welt nicht mehr. Dann lieber EU-Rente. Einer sagt zu mir: „Stress‘ Dich nicht so. Lass‘ Dir Zeit, ist doch egal, ob Du im Dezember oder im April wieder zurück an die Arbeit kannst.“ Mir ist es nicht egal. Und ich denke darüber nach, dass sehr viele jener Menschen, die gerade in einer Art Leidensgemeinschaft mit mir leben, nie wieder arbeiten werden.

400 Meter von der Schmerzklinik entfernt liegt der berühmte Berliner Waldfriedhof im Bezirk Zehlendorf. Ich stehe am Grab von Willy Brandt, von Ernst Reuter, von Hildegard Knef. Mit etwas mehr Pech, denke ich, wäre ich jetzt nicht mehr hier.

Einige Wochen später in einer Reha-Klinik in Mecklenburg – die Stationsärzte kommen aus Ägypten oder Polen, die Chefärzte aus Deutschland. Auch hier zahlreiche EU-Rentner-Anwärter. Die Kassiererin, die die nicht mehr kassieren kann, der Helfer beim Bauern, der als Rheumapatient keine Faust mehr ballen kann, der Lehrer mit dem Wackelknie, eine Frau kann seit Jahren ihren Hals nicht mehr gerade halten. Als Teil der Therapie sitzen wir in einer Yoga-Runde. „Kundalini-Yoga“, erklärt die Therapeutin noch. Wir sprechen das Mantra, drei Mal: „Ong namo guru dev namo.“ Oder übersetzt: „Ich verneige mich vor der unendlichen, schöpferischen Kraft, die mich vom Dunkeln ins Licht führt.“ Ich bin froh, dass das Licht noch an ist.

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