Joachim Gauck Bundespräsident beeindruckt mit seiner Rede nach der Vereidigung

BERLIN · Die Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion springen als Erste auf, um den Redner stehend mit Applaus zu feiern. Sekundenbruchteile später folgen Unions- und FDP-Fraktion. Dann die Regierungsmitglieder und die vollständig erschienenen 16 Länder-Ministerpräsidenten. Ganz zuletzt die Linkspartei. Dort bleibt ein Drittel der Abgeordnetenbänke während dieser gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat leer.

 Militärische Ehren: Das Wachbataillon der Bundeswehr tritt für den neuen Bundespräsidenten vor dessen Amtssitz an.

Militärische Ehren: Das Wachbataillon der Bundeswehr tritt für den neuen Bundespräsidenten vor dessen Amtssitz an.

Foto: dpa

Der Auslöser der Ovationen, Joachim Gauck, schüttelt Parlamentspräsident Norbert Lammert derweil herzlich die Hand. Im Anschluss ein reichlich kurzer Händedruck mit Angela Merkel. Der 72-jährige Gauck hat die in Berlin zum Alltag gehörenden Wangen-Küsschen nicht im Repertoire. Das muss auch seine Lebensgefährtin Daniela Schadt erfahren: Er reicht ihr kurz die Hand. Es gibt keinen küssenden Präsidenten für die Fotografen.

Unter den Gästen auf der Ehrentribüne sind die ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Roman Herzog sowie Horst Köhler. Dem Redner Gauck sitzt in einer Extra-Stuhlreihe der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, gegenüber. Neben ihm: Der vor einem Monat zurückgetretene Christian Wulff mit seiner Ehefrau Bettina. Für Wulff sichtlich kein schöner Termin. Man merkt, wie er, je länger Bundestagspräsident Lammert (CDU), Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) und Gauck selbst reden, immer mehr in sich zusammensackt. In seinem schmal gewordenen Gesicht arbeitet es unentwegt.

Die Vereidigungszeremonie findet in unprätentiösem, beinahe puritanischem Rahmen statt. Kein Blumenstrauß, der den Saal schmückt. Bevor Lammert Gauck zur Vereidigung bittet, hat er ihm schon einen guten Ratschlag mit auf den Weg gegeben. "Lieber Herr Gauck", spricht der Bundestagspräsident in seiner Eröffnungsrede den Bundespräsidenten direkt an: "Lieber Herr Gauck, es ist gut, dass Sie nach Ihrer Nominierung gesagt haben, sie seien weder ein Supermann noch ein fehlerloser Mensch." Das eine sei "so beruhigend wie das andere". Gauck selbst hat wohl seit Tagen intern vor den überbordenden Erwartungen an seinen Amtsantritt gewarnt. Aus Sicht des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers hat sich eine Tendenz in Deutschland verfestigt, eine "letzte Autorität" zu haben, die man anrufen könne, wenn es im politischen Streit nicht voran gehe. Laut Lammert ist im demokratischen Gemeinwesen für eine letzte Instanz kein Platz: "Das gilt sogar für das Amt des Bundespräsidenten."

Während Horst Seehofer, der als Bundesratspräsident vier Wochen lang das Amt kommissarisch ausübte und dies als "sehr schöne Erfahrung" in Erinnerung behalten will, spricht, steht hinter dem Präsidiumstisch ein livrierter Bundestagsbediensteter, der das Redemanuskript des Präsidenten in einer dunkelblauen Ledermappe mit dem Bundesadler-Aufdruck wie seinen Augapfel hütet, bevor er das Manuskript behutsam auf das Rednerpult legt.

Gauck wird vor seiner Rede vereidigt. Er liest dazu die Eidesformel vor, die im Artikel 56 des Grundgesetzes enthalten ist. Wulff hatte sich bei seiner Vereidigung verhaspelt. Doch obwohl Gauck deutlich nervös ist (seine rechte Hand zittert bei der Eidesleistung), bringt er die Zeremonie tadelsfrei hinter sich. Und zwar mit der Schlussformel: "So wahr mir Gott helfe."

[kein Linktext vorhanden]Gaucks oft frei gehaltene Reden, die predigende Züge haben, gelten als brillant. Und zwar vor allem aus inhaltlichen Gründen. In der Schlüsselpassage setzt er sich mit dem Rechtsextremismus auseinander. Doch er will nicht in die Niederungen der Tagespolitik gezogen werden und sich beispielsweise zur laufenden Debatte um ein NPD-Verbotsverfahren äußern. Also appelliert der Präsident an das demokratische "Wir-Gefühl" und meint: "Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen. Wir stehen zu diesem Land."

Donnernder Applaus - sogar von der Linkspartei. Aber der Bundespräsident geht noch einen Schritt weiter: "Euer Hass ist unser Ansporn", schleudert er den radikalen Feinden des Staates entgegen: "Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken Euch nicht unsere Angst." Erneut starker Applaus im ganzen Haus.

Gauck verbindet dies mit der Ankündigung, eine Initiative seines Amtsvorgängers Wulff aufzunehmen. Er will das Integrationsthema zu einem Schwerpunkt machen. Wulffs Vorstellungen einer offenen Gesellschaft "werden mir auch am Herzen liegen".

Angela Merkel applaudiert teilweise etwas müde, teilweise begeistert. Im Zeichen der EU-Krise müsse man, um eine Renationalisierung der Politik zu verhindern, "mehr Europa wagen". Sagt Gauck. Die Formulierung erinnert an Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" aus dem Jahr 1969.

Dann stimmt Gauck ein Loblied auf die 68er-Studentenbewegung an. Diese habe Verkrustungen aufgebrochen und die kollektive Schuld der Deutschen in den Vordergrund gestellt.

Immer wieder fragt Gauck die Volksvertreter: "Wie könnte das Land aussehen, das wir unseren Kinder übergeben, damit sie sagen können: Das ist unser Land?" Was Gauck bekümmert, ist die Distanz zwischen Regierenden und Regierten.

Den Politikern rät er: "Erst redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden." Aber er hat auch einen Appell an die Politikverdrossenen: "Wer auf eine Mitgestaltung verzichtet, der vergibt die Möglichkeit zur Verantwortung." Und er verteidigt das System der repräsentativen Demokratie als einziges Modell zum Ausgleich von Allgemein- und Individual-Interessen.

[kein Linktext vorhanden]Kein Zweifel: Der neue Bundespräsident Gauck argumentiert auf einem intellektuellen Niveau, das im Bundestag nur noch selten anzutreffen ist. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schwärmt: "Das war die beste Rede, die ich hier im Bundestag gehört habe." Vizekanzler und FDP-Chef Philipp Rösler schließt sich dem an: eine "großartige Rede". Gauck sei ein "Präsident der Freiheit".

Eine Spur zurückhaltender Peter Altmaier von der Unions-Bundestagsfraktion: Joachim Gauck werde ein "politischer Präsident". Gregor Gysi hat für die Linkspartei registriert, dass Gauck in seiner Bundestagsrede die soziale Frage wie nie zuvor in die Auseinandersetzung eingebracht habe. Und der Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin urteilt bündig: "Ich habe am heutigen Tag festgestellt: Wir haben einen guten Bundespräsidenten."

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