Streik in Frankreich Darum sind die Franzosen Europameister im Streiken

Paris · Die Franzosen sind Europameister im Streiken – der Grund dafür ist auch in der Verfassung des Staates zu finden. Eine Analyse.

Streik in Frankreich: Darum sind die Franzosen Europameister im Streiken
Foto: dpa/Daniel Cole

Frankreich streikt – immer noch. Mit Verwunderung und bisweilen auch Neid blickt der Rest von Europa auf dieses Volk, das sich mit Wut und Vehemenz seit weit über einem Monat gegen die von der Regierung geplante Rentenreform stemmt. In Paris liegt der Nahverkehr lahm, Raffinerien werden blockiert, Gerichte stellen die Arbeit ein und regelmäßig gehen Hunderttausende auf die Straße.

Wieder einmal bestätigt sich: die Franzosen sind Streik-Europameister. Auf 1000 Beschäftigte kommen in Frankreich laut Statistik pro Jahr rund 130 Streiktage, in Deutschland sind es gerade einmal 15. Eine sehr einfache Erklärung dafür lautet: Den Franzosen liegt die Revolution im Blut. Auch die monatelangen Demonstrationen der „Gelbwesten“ gegen die sozialen Missstände im Land scheinen diese abgegriffene These zu untermauern.

Die Wahrheit ist allerdings komplizierter. Auf der Suche nach den Hintergründen lohnt sich ein Blick in die französische Verfassung. Die räumt jedem Bürger ein individuelles Streikrecht zur Verbesserungen der Arbeitsbedingungen ein, was bereits ein gewisses anarchisches Element begünstigt. Deutschland hat in diesem Fall eine ganz andere Regelung. Dort dürfen die Arbeitnehmer im Grunde nur im Rahmen von Tarifverhandlungen auf die Straße gehen – zudem müssen die Streiks von Gewerkschaften organisiert werden.

Gewerkschaften als moderierendes Element fallen aus

Hier offenbart sich einer der Gründe, weswegen französische Arbeitnehmer kaum organisiert sind. Nur rund zehn Prozent sind Mitglied in einer Gewerkschaft. Manche Organisationen versuchen diese offensichtliche Schwäche durch eine erhöhte Militanz zu kompensieren. Das hat allerdings zur Folge, dass die Gewerkschaften als mögliches moderierendes Element ausfallen.

Das Problem liegt aber noch tiefer. Anders als in Deutschland, wo Gewerkschaften eine Art vermittelnde Rolle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einnehmen können, sind solche Instanzen im Denken der französischen Republik nicht vorgesehen. Nach der Philosophie von Jean-Jacques Rousseau ist der Staat direkter Repräsentant der Bürger. Eine zwischen diese beiden Ebene geschaltete Instanz wäre für die Verwirklichung der volonté générale – des Gemeinwillens – eher hinderlich. Das hat allerdings zur Folge, dass es bei komplexen Fragen und Gesetzgebungen – wie aktuell der Rentenreform – schwierig ist, gesellschaftlichen Widerspruch frühzeitig und geordnet in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Konfrontationen sind vorprogrammiert.

Verschärft wird das Problem durch das französische Regierungssystem mit dem sehr starken Präsidenten und einem schwachen Parlament. Die Franzosen vergleichen Emmanuel Macron inzwischen gerne mit dem Sonnenkönig Ludwig XIV., der im Élysée-Palast einsam Entscheidungen fällt und sie dann dem Volk präsentiert, wogegen dieses nur die Möglichkeit sieht, auf der Straße zu revoltieren.

Frankreichs Gesellschaft ist ideologisiert und polarisiert

Im Gegensatz dazu sind in Deutschland - mit einer wichtigen föderalen Komponente und einem starken Parlament - die verabschiedeten Gesetze meist das Ergebnis von langen Diskussionen und unzähligen Kompromissen, in die die Bedenken vieler politischer Akteure mit einfließen. In der Regel werden Konflikte auf diese Weise bereits im Vorfeld entschärft – was öffentlichen Widerstand gegen unliebsame Entscheidungen der Regierung natürlich nicht ausschließt.

Doch nicht nur durch die politische Strukturen Frankreichs und fehlende Ebenen zur Moderation von Konflikten begünstigen das Protestverhalten. Tatsache ist auch, dass in der französischen Gesellschaft ein hoher Grad an Ideologisierung und Polarisierung zu verzeichnen ist, zu der auch eine intensivere Streit- und Protestkultur gehört. So gibt es noch immer viele linke, sehr radikale Parteien, die im politischen Alltag zwar kaum Gewicht haben, doch im Selbstverständnis der Gesellschaft und etwa auch bei den Gewerkschaften fest verankert sind. Deutlich wird das aktuell bei den Protesten gegen die Rentenreform, wo radikale Linke immer in der ersten Reihe marschieren.

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