Erdtemperatur Der Gorbatschow-Effekt

Alles schon mal dagewesen: Ende der 80er Jahre müssen Klimaforscher Hohn und Spott ertragen. Der "Spiegel" setzt am 11. August 1986 einen vom Meer überfluteten Kölner Dom auf den Titel. Das Blatt blickt 54 Jahre in die Zukunft: "Jetzt, im Jahre 2040, ragen die Wolkenkratzer New Yorks weit vor der Küste wie Riffs aus der See." So sollen die Deutschen sensibilisiert werden für eine vernachlässigte Gefahr: Forscher warnen seit Jahrzehnten vor dem zusätzlichen Treibhauseffekt - die globale Erwärmung aus Menschenhand. Doch es gibt ein Problem: Die Erdtemperatur steigt nicht wie vorhergesagt.

 In der Provinz Shanxi: Alle 2,5 Tage geht in China ein neues Kohlekraftwerk zur Stromproduktion ans Netz.

In der Provinz Shanxi: Alle 2,5 Tage geht in China ein neues Kohlekraftwerk zur Stromproduktion ans Netz.

Foto: dpa

Es ist die Zeit des Sauren Regens. Deutschland bilanziert seine Waldschäden, der Denkmalschutz kämpft gegen die beschleunigte Zerstörung von Sand- und Kalkstein, Skandinavien meldet glasklare, aber tote Seen. Ursache: zu viel Schwefel in der Luft. Auch die Natur stürzt Klimaforscher in deren erste Glaubwürdigkeitskrise: 1991 eruptiert der Pinatubo auf den Philippinen, zweitschwerster Vulkanausbruch des 20. Jahrhunderts, und schleudert Schwefel in die Hochlagen der Atmosphäre - wie damals auch die Schwerindustrie, deren Emissionen es jedoch nicht bis in die Stratosphäre schaffen. Die Schwefelpartikel reflektieren das Sonnenlicht fast ideal und kühlen so den Planeten.

Es ist auch die Zeit, in der die Reformen von Sowjetchef Michail Gorbatschow zwischen "Glasnost" und "Perestroika" scheitern und die Sowjetunion sich auflöst: Das Bruttoinlandsprodukt sinkt zwischen 1990 und 1996 um rund 40 Prozent. Hinter dem Eisernen Vorhang bricht die Schwerindustrie des Ostens, das "Schmutzige Dreieck" zwischen Polen, Tschechien und der Sowjetunion, weitgehend zusammen. Folge: weniger Kohlendioxid (CO2), aber auch weniger Schwefel in der Lufthülle.

Im Jahr 2002 spricht Professor Hartmut Graßl, einst Chef der Welt-Meteorologie-Organisation (WMO), vom "Gorbatschow-Effekt": Die Erdtemperaturen steigen ab 1995 rasant, der zusätzliche Treibhauseffekt wird nicht mehr kompensiert. Auch die Regierungen des Westens reißen mit ihrem Kampf gegen Sauren Regen, Waldsterben und tote Seen der globalen Erwärmung unbewusst ihre kühlende Maske weg. Graßl hatte bereits 1982 vorhergesagt, welche "perversen Folgen" die Maßnahmen zur Luftreinhaltung (Rauchgasentschwefelung) haben würden: Die Luft würde sauberer, mehr Sonnenlicht den Erdboden erreichen und der Treibhauseffekt, seit 1955 von der Luftverschmutzung in Schach gehalten, spürbarer werden.

2007 fasst der UN-Weltklimarat IPCC zusammen: "Elf der letzten zwölf Jahre (1995-2006) waren unter den 20 wärmsten Jahren seit Beginn der Aufzeichnungen."

Nun erscheint die globale Erwärmung seit etwa 1998 (siehe Artikel oben) abgebremst. Ausgerechnet China, das längst die USA beim CO2-Ausstoß überholt hat, bildet einen "kühlenden Hotspot". Die Tempo-Tempo-Industrialisierung schreit nach Energie: Etwa alle 2,5 Tage geht im Wachstums-Wunderland seit Anfang des 21. Jahrhunderts ein neues Kohlekraftwerk in Betrieb. Doch die CO2-Schleudern sind auch Schwefelquellen, denn China verfeuert seine eigene, extrem schwefelhaltige Kohle. Zwischen 2003 und 2007 verdoppelte sich der Kohleverbrauch. Rauchgasentschwefelung ist hier, wie auch in Indien, meist noch Zukunftsmusik.

Die Sulfataerosole haben mit bis zu zehn Tagen Tagen eine wesentlich geringere Verweildauer in der Atmosphäre als CO2-Moleküle (bis zu 100 Jahre). Nur die von heftigen Vulkanausbrüchen in große Höhen geschleuderten Schwefelpartikel können bis zu vier Jahre kühlen. Chinas jährlicher Schwefelausstoß, bis zu 20 Millionen Tonnen, entspricht in etwa dem des Pinatubos 1991.

Wenn die Entwicklungs- und Schwellenländer beginnen, erste Maßnahmen zur Luftreinhaltung umzusetzen, entfallen mit der Entschwefelungsoffensive auch die kühlenden Effekte. Doch in der komplexen Gemengelage zwischen wärmenden und kühlenden, zwischen natürlichen und menschlichen Einflüssen sind Asiens aktuelle Schwefelemissionen nur ein Faktor.

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