Landtagswahl AfD könnte stärkste Partei in Sachsen werden

Dresden · Viele Menschen im Osten sind unzufrieden mit der Politik in Berlin. Und auch etliche Wahlkämpfer in den neuen Ländern kritisieren ihre Parteizentrale. Die AfD könnte nach der Landtagswahl am 1. September stärkste Kraft werden.

Das abgelegene Dörfchen Clausnitz auf dem Erzgebirgskamm hat in seiner Geschichte ein einziges Mal Schlagzeilen produziert. Am 18. Februar 2016 blockierten wütende Einwohner und rechte Aktivisten aus der Umgebung einen Flüchtlingsbus und brüllten unentwegt „Wir sind das Volk“. Im Bus mit der Aufschrift „Reisegenuss“ brach Panik aus, Polizisten holten die Flüchtlinge teils gewaltsam raus und brachten sie in ihre neuen Unterkünfte – weitab jeder Infrastruktur.

Im Sommer 2019 ist Clausnitz die reinste Idylle, die hässlichen Bilder von damals unendlich weit weg. Gepflegte Häuser und Gärten, in denen es üppig blüht, es gibt kaum Verkehr. Eine kleine Gruppe Clausnitzer trifft sich auf Parkbänken, schwatzt fröhlich, lädt Fremde ein, gemeinsam ein Gläschen Sekt zu trinken. Es dauert nicht lange und die Gespräche drehen sich um Politik. Die „Systemparteien“ werden kritisiert, die AfD als einzige Alternative gesehen, schlimm seien „die gleichgeschalteten Medien“. „Es ist wie früher.“

Alle sind froh, dass die Flüchtlinge wieder weg sind. Ganz unbefangen gegenüber den Fremden in der Runde fragt einer: „Kerstin, fährst Du am Montag wieder mit zu Pegida nach Dresden?“ Ein Lehrerehepaar ist dabei, Handwerker, eine Vermieterin von Gästezimmern. Niemand ist aufgeregt. Alle sind nett. Keiner widerspricht.

In Clausnitz ist zu spüren, was bei den Landtagswahlen am 1. September in Sachsen und Brandenburg sowie zwei Monate später in Thüringen geschehen wird: Die AfD könnte zum ersten Mal stärkste Partei werden, die Umfragen sagen ihr für Sachsen und Thüringen um die 25 Prozent der Stimmen vorher, in Brandenburg ein paar Prozentpunkte weniger. Im Erzgebirge oder in der Lausitz dürften es deutlich mehr werden. Wahrscheinlich wird die AfD viele Direktmandate erringen.

In den 90er Jahren holte die CDU absolute Mehrheiten

Was ist passiert? Es ist noch gar nicht so lange her, da hieß es, die CDU könne in den Wahlkreisen einen Besenstiel aufstellen und trotzdem gewinnen. Wieso konnte die CDU, die unter Ministerpräsident Kurt Biedenkopf gerade im ländlichen Raum spielend absolute Mehrheiten holte, derart einbrechen und der AfD das Feld überlassen?

In Clausnitz scheint auf den ersten Blick alles in Ordnung. Die Häuser sind wie überall im Osten fein saniert, die Straßen auch. Fast alle hier haben Arbeit. Aber der Preis für das Leben in der Erzgebirgsidylle ist hoch. Qualifizierte Arbeit zu finden ist schwer, viele müssen weite Wege fahren, in zahlreichen Firmen wird nur der Mindestlohn bezahlt. Tschechen treten als Konkurrenten auf, sie übernehmen auch schlecht bezahlte Jobs. Die Einkommen in den Erzgebirgskreisen gehören zu den niedrigsten in Deutschland. Die Jungen ziehen weg, vor allem junge Frauen. Für viele Clausnitzer Familien ist das Weggehen unmöglich, weil die Häuser unverkäuflich sind. Niemand will hier her, so schön es hier auch ist.

Die Clausnitzer fühlen sich wie viele Sachsen auf dem Land von der Politik vergessen. Die Sparpolitik der CDU-geführten Landesregierungen in den vergangenen 20 Jahren hat vor allem sie getroffen, während Städte wie Leipzig oder Dresden aufblühten. Es gibt zwar noch eine – unsanierte – Grundschule im Ort, aber das Schulnetz ist ausgedünnt, die Verkehrsanbindung schwach, nur die allernötigsten Läden sind übrig, der Gasthof längst geschlossen. Dafür umstellen riesige Windräder das Dorf, die viele zur Verzweiflung treiben.

Die überraschende Ankunft des Flüchtlingsbusses im Februar 2016 wurde im Ort dann so bewertet: Erst hat uns die Politik vergessen, jetzt schickt sie uns viele fremde Menschen mit fremder Kultur, die auch noch unsere Idylle zerstören. Mit solchen Gedanken und Gefühlen fahren Clausnitzer jeden zweiten Montag zur Pegida-Demo nach Dresden, weit über eine Stunde sind sie dahin unterwegs. 3000 bis 4000 kommen da noch zusammen, sehr viele aus dem ländlichen Raum. In dieser Woche hing ein riesiges Plakat über den Köpfen: „Die AfD ist die einzige Hoffnung im Irrenhaus Deutschland.“

Bei der Bundestagswahl 2017 erstmals in Sachsen vorne

Nach der vorigen Bundestagswahl, bei der die AfD erstmals stärkste Partei in Sachsen wurde, riss der neue Ministerpräsident Michael Kretschmer das Ruder herum. Der Finanzminister musste gehen, der Sparkurs wurde deutlich entschärft. 1000 neue Polizisten werden nun eingestellt, die das Sicherheitsgefühl gerade in den Grenzregionen verbessern sollen, Lehrer können jetzt verbeamtet und vielleicht aufs Land gelockt werden. Kretschmer kämpft wie ein Löwe, dass die Lausitz nach dem absehbaren Ende der Braunkohleförderung nicht endgültig ins Abseits gerät.

Und er redet, redet, redet. Noch nie hat sich ein Ministerpräsident so viel Zeit genommen, um sich täglich mit Bürgern vor Ort zu treffen, ihre Sorgen anzuhören und konkrete Verbesserungen zu versprechen. Anfang des Jahres war er auch in Clausnitz, wo 200 der 900 Einwohner auf ihn warteten. Er hörte sich geduldig ihre Sorgen an und versprach Verbesserungen mindestens bei einem Teil ihrer Probleme. So will er dafür sorgen, dass die Schule endlich saniert wird.

Ob diese Anstrengungen, die man Kretschmer inzwischen deutlich ansieht, auch wirken, lässt sich noch nicht sagen. Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD vorher. Zuletzt schien die CDU im leichten Aufwind. Für die Linkspartei werden 15, die Grünen zwölf, die SPD acht und die FDP fünf Prozent erwartet. Wie soll da eine handlungsfähige Regierung gebildet werden? Die große Koalition aus CDU und SPD kann wohl zusammen gerade einmal ein Drittel der Wählerstimmen einsammeln.

Koalitionen mit AfD und Linkspartei hat Kretschmer schon früh ausgeschlossen. Will er also eine Mehrheit für die Regierung, ginge das nur mit einer bisher unbekannten Viererkoalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP – wenn denn die Liberalen die Fünf-Prozent-Hürde überspringen und wenn eine Kooperation zwischen der stramm konservativen Sachsen-CDU und den noch recht traditionellen Grünen im Land tatsächlich machbar ist. Falls das nicht funktioniert, denkt die CDU an eine Minderheitsregierung, die sich wechselnde Mehrheiten sucht, die AfD aber auch von solcher Kooperation ausschließt.

Und wenn die CDU hinter der AfD nur Zweiter werden sollte und der Ministerpräsident wie bei der Bundestagswahl seinen Lausitzer Wahlkreis gegen einen AfD-Kandidaten verliert? Wenig wahrscheinlich, dass er sich dann im Amt halten kann. Was ein möglicher Nachfolger plant, ist völlig offen. Genauso offen ist, was die Schockwellen, die die drei Landtagswahlen im Osten aussenden werden, in Berlin bewirken. Die Botschaft der AfD-Anhänger jedenfalls ist klar: Merkel muss weg. Die ostdeutsche Bundeskanzlerin gilt für sie als Volksverräterin.

Wer im August die Straßen im Erzgebirge entlang fährt, sieht fast nur Wahlplakate, die die AfD geklebt hat. Besonders oft wird das Motiv mit der doppeldeutigen Zeile „Integration braucht Grenzen“ eingesetzt. Während einige Parteien den Landstrich offenbar aufgegeben haben, finden viele Wähler im Erzgebirge den Einsatz ihres Ministerpräsidenten Kretschmer ziemlich gut und anerkennenswert, als Beispiel sogar dafür, wie ein Politiker sein muss, der zuhört und dann entschlossen handelt. Viele von ihnen werden dennoch die AfD wählen. Unaufgeregt inzwischen, aber wild entschlossen. Drei von vier Wählern in Sachsen sind entsetzt darüber.

Der Autor war viele Jahre Mitglied der Chefredaktion der in Dresden erscheinenden „Sächsischen Zeitung“. Heute ist er als freier Autor und Ombudsmann seiner Zeitung tätig. Kittel ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Radebeul.

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