Zukunft der SPD-Parteivorsitzenden Andrea Nahles steht unter Druck

Osnabrück · Hinter vorgehaltener Hand wird an der SPD-Chefin viel Kritik geübt. Mächtige Landesverbände haben schon Nachfolgekandidaten im Kopf. Vize-Parteichef Weil aus Niedersachsen gilt als der kommende Mann.

Vor der Stellwand mit der Aufschrift „Neue Stärke“ kehrt Stephan Weil den Kameraleuten kurz den Rücken zu und schaut auf seine Notizen. Seine Sprecherin ruft ihm vorsichtshalber zu: „Keine Revolution anzetteln!“. Der niedersächsische Ministerpräsident entgegnet: „Die fällt doch bei den Sozialdemokraten ohnehin meist aus“, und verkündet grinsend, dass er zuversichtlich auf 2019 blicke und sich auf die Diskussion freue.

Auch drinnen, im Veranstaltungssaal eines Osnabrücker Hotels, freut man sich auf Weil. Der niedersächsische SPD-Chef und Vize der Bundespartei will bei einer Klausur mit rund 50 Abgeordneten aus seiner Heimat und aus NRW über die Aufstellung der Partei sprechen. Er gewann die Landtagswahl trotz des VW-Skandals und seiner qua Amt vorgegebenen Mitgliedschaft im Aufsichtsrat des Autokonzerns. Er wird bis in höchste Parteigremien als möglicher Nachfolger von SPD-Chefin Andrea Nahles genannt. Und er genießt eine Form natürlicher Autorität, die nur noch wenige andere Sozialdemokraten besitzen.

Selbst Andrea Nahles kann sich der eigenen Autorität kaum mehr sicher sein. Ihre Wahl zur Vorsitzenden ist zwar nicht einmal neun Monate her. Doch seitdem hat sich viel Frust angestaut. An der Basis, bei Funktionären und auch bei den Abgeordneten im Bundestag. Zuerst wunderten sie sich über Nahles’ derbe „Auf die Fresse“-Worte, ließen die Chefin mit Zähneknirschen gewähren, als sie aus Rücksicht auf die Union den SPD-Antrag zur Reform des Paragrafen 219a zurückzog, der das Werbeverbot für Abtreibung regelt. Fassungslos reagierten viele, als Nahles die Entscheidung zur Beförderung des geschassten Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ins Innenministerium mittrug. Und nun schauen sie trotz zahlreicher SPD-Erfolge in der Koalition frustriert und ratlos auf Umfragewerte, die bei 14 bis 15 Prozent wie betoniert scheinen.

Wo soll da Zuversicht für 2019 herkommen? Die Regierung in Bremen muss Ende Mai verteidigt werden, zeitgleich steht die von Nahles als schicksalhaft titulierte Europawahl an. Drei Landtagswahlen im Osten und diverse Kommunalwahlen sollen gewonnen werden. Doch weder die Umfragen erlauben Optimismus, noch die bisher weitgehend leeren Schubladen der Parteistrategen. So fehlt noch ein Europawahlprogramm für ihre Spitzenkandidatin Katarina Barley. Wegen all dem steht Nahles massiv unter Druck.

Weil kann sich hingegen in eine Debatte mit den Abgeordneten begeben. In einer presseöffentlichen Rede nennt er vier Punkte, an denen er Zusammenhalt und Sicherheit als die wesentlichen Programminhalte der SPD erzählen will: In Europa, bei der Generationengerechtigkeit in Deutschland, beim Schutz von Arbeitsplätzen mit gleichzeitig mehr Klimaschutz und beim Kampf gegen Rechts.

Viele Abgeordnete sehen Olaf Scholz kritisch

Nun ist es nicht so, dass Weil die Herzen im Saal zufliegen. Mehrere Abgeordnete werfen ihm vor, den Umweltschutz nicht ernst genug zu nehmen. Doch selbst darin lässt sich ein Vorteil für ihn ausmachen, den Nahles nicht mehr hat: Sein Verhältnis zu den Abgeordneten ermöglicht noch einen Streit ohne Gedanken an einen Putsch. Hingegen ist Nahles an einem Punkt angekommen, an dem sie sich immer häufiger einer vordergründig auf Harmonie bedachten Gruppe gegenüber sieht, die hintenrum reichlich Gift und Galle spuckt.

Die Revolution fiel in Osnabrück aus. Doch das überraschte nicht. Schließlich hat trotz des Ärgers niemand Ambitionen, Nahles abzulösen. Es wäre der falsche Zeitpunkt, so kurz vor den Wahlen. Nahles kann sich in Sicherheit wiegen, zumindest bis zur Europawahl. Daran ändert auch die von Vizekanzler Olaf Scholz losgetretene Debatte um die SPD-Kanzlerkandidatur und eine wohl nicht mehr zu vermeidende Urwahl nichts. Trotz des Vorpreschens ihres Vertrauten bezeichnete Nahles ihr Verhältnis zu Scholz als „unverändert gut“.

Längst scheint ausgemacht, dass sie keine Chance mehr auf die Kanzlerkandidatur hat. Viele Mitglieder der mächtigen Landesgruppen NRW und Niedersachsen sehen aber auch Scholz kritisch. Sie wünschen sich Weil als Kandidaten für den Parteivorsitz, sollte die Europawahl krachend verloren gehen und Nahles nicht mehr weitermachen können. Und die Fraktion? Die könnte vielleicht NRW-Landesgruppenchef Achim Post leiten, heißt es. Doch bis dahin soll es jetzt endlich um Inhalte gehen, zuerst bei der nun anstehenden Fraktionsklausur in Berlin.

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