Corona-Pandemie in Deutschland Ärzte und Wissenschaftler sind gegen pauschalen Lockdown

Bonn · Ärzte und Wissenschaftler - darunter der Bonner Virologe Hendrik Streeck - haben sich gegen ein breites Herunterfahren des Alltagslebens zur Corona-Eindämmung ausgesprochen. Stattdessen fordern sie eine langfristige Strategie im Umgang mit dem Virus und besseren Schutz der Risikogruppen.

 Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat sich gemeinsam mit Vertretern der Ärzteschaft gegen einen pauschalen Lockdown ausgesprochen.

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat sich gemeinsam mit Vertretern der Ärzteschaft gegen einen pauschalen Lockdown ausgesprochen.

Foto: Nicolas Ottersbach

Die Ärzteschaft der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) fordert gemeinsam mit Vertretern der Wissenschaft einen Strategiewechsel bei der Pandemiebekämpfung in Deutschland. In einer kurzfristig einberaumten Pressekonferenz, an der auch der Bonner Virologe Hendrik Streeck und der Hamburger Mediziner Jonas Schmidt-Chanasit teilnahmen, stellte die KBV ein Positionspapier vor und forderte kurz vor dem Corona-Gipfel von Bund und Ländern am heutigen Mittwoch eine Diskussion über ein langfristiges Vorgehen im Umgang mit Covid-19.

Von einem erneuten Lockdown, der nach Plänen der Politik die Fallzahlen in Deutschland senken soll, raten die Beteiligten ab. Die Kollateralschäden eines solchen seien sowohl für die Gesundheit der Bevölkerung als auch für die Wirtschaft größer als der Nutzen und er habe keine langfristige Wirkung. Stattdessen würden die Zahlen anschließend wieder steigen und ein neuer Lockdown sei dann nötig. Stattdessen fordern sie:

  • Eine Abkehr der individuellen Kontakt-Nachverfolgung von Positivgetesteten, um die Ämter zu entlasten
  • Ein bundesweites Ampelsystem, das anhand medizinischer Faktoren wie der Belegung von Intensivbetten, Alarm schlägt
  • Eine stärkere Konzentration auf den Schutz von Risikogruppen
  • Ein stärkerer Fokus auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung und die Einhaltung der Hygieneregeln

Die Forderungen des Positionspapiers würden von großen Teilen der Ärzteschaft unterstützt. Unterschrieben haben das Papier demnach Ärtzeverbände wie der Deutsche Hausärzteverband und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die im Gegensatz zu dem ambulanten Ärzten den stationären Medizinbereich vertritt, gehört allerdings nicht zu den Unterzeichnern. Auch hatten sich bereits zuvor zahlreiche Mediziner und Wissenschaftler für strengere Einschränkungen ausgesprochen.

KBV-Chef Andreas Gassen bezeichnete einen pauschalen Lockdown als „nicht zielführend“. Es müsse einen gesunden Mix aus Einschränkungen und medizinisch begründeter Maßnahmen geben - auch weil dies zu einer höheren Akzeptanz in der Bevölkerung führe. Man könne nicht das ganze Land „Wochen und Monate in eine Art künstliches Koma“ versetzen, auch angesichts bleibender Schäden für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Nötig seien zielgerichtete Maßnahmen zur Eindämmung. Essentiell für ein Gelingen sei die Kooperation der Bevölkerung etwa bei Regeln zu Abstand und Masken. Empörung äußerte Gassen über die Forderung des SPD-Politikers und Mediziners Karl Lauterbach, Kontrollen in Privatwohnungen durchzuführen.

Streeck betonte, Ziel des Vorstoßes sei es nicht, die Lage zu verharmlosen. Entscheidend seien aber medizinisch begründbare Faktoren bei der Pandemiebekämpfung wie etwa der Blick auf die Bettenbelegung in Krankenhäusern. „Alleine auf die Infektionszahlen zu schauen ist zu wenig“, sagte er. Auch, weil der Anteil jüngerer Infizierter deutlich höher sei als im Frühjahr und diese seltener eine medizinische Versorgung bräuchten. Allerdings sei auch der alleinige Blick auf die Belegung von Intensivbetten nicht zielführend, weil man hier zu spät reagieren könne.

„Ein Problem, das wir sehen ist, dass der Schutz von Risikogruppen zu kurz kommt“, sagte Streeck. FFP2-Masken, Schnelltests und Nachbarschaftshilfen könnten Menschen besser schützen, die sich selbst zu Hause isolieren. Der Umgang mit der Pandemie sei kein Sprint sondern ein Marathon. „Wir haben es in den Sommermonaten nicht geschafft, die Kontakte nachzuverfolgen und die Pandemie einzudämmen“, sagte Streeck. Die Kontaktverfolgung sei demnach nicht als alleiniges Mittel zur Eindämmung geeignet.

Die Beteiligten äußerten sich skeptisch dazu, ob ihre Forderungen bei den Gesprächen zwischen Bund und Ländern noch Gehör finden. Allerdings sei es auch nach einem möglichen Lockdown sinnvoll, über langfristige Strategien nachzudenken, weil das Virus auch in den kommenden Jahren zum Alltag gehören werde.

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