Corona-Krise So könnte die Ansteckungszahl Deutschland verändern

Düsseldorf · Die Verbreitung des Virus ist in Deutschland seit einiger Zeit stabil. Abzulesen ist das an dem sogenannten R0-Wert, einer wissenschaftlichen Größe. Was hat er zu bedeuten?

 Auch kleinere Schutzmaßnahmen können helfen: Je weniger Menschen sich anstecken, desto besser.

Auch kleinere Schutzmaßnahmen können helfen: Je weniger Menschen sich anstecken, desto besser.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Angela Merkel ist mit Zahlen vertraut. Als Bundeskanzlerin, aber noch viel mehr als promovierte Physikerin. Am Mittwochabend war es die Zahl 1, die Merkel besonders beschäftigte. Es war auf der Pressekonferenz nach der Tagung mit den Ministerpräsidenten der Länder. Es ging um die sanften Lockerungen der Eindämmungsmaßnahmen in der Corona-Krise. Die Reproduktionszahl des Virus liege derzeit bei 1, sagte Merkel. Das ist gut. Denn es bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel nur noch eine weitere Person ansteckt. R0 = 1. Die Verbreitung des Virus ist damit stabil.

Was sagt der R0-Wert über die Situation in Deutschland aus?

Wir bewegen uns bei der Reproduktionszahl nahe einer Schlucht. Wir balancieren quasi an der Felskante. Klettert der R0-Wert nur minimal, sagen wir auf 1,1, wird es schon wieder kritisch für unser Gesundheitssystem. In solch einem Fall würde Deutschland im Oktober an die Kapazitätsgrenzen kommen, sagte Merkel. „Wenn wir 1,2 haben, also jeder steckt 20 Prozent mehr an, also von fünf Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems“, so die Kanzlerin weiter.

Wir funktioniert die Reproduktionszahl?

Vereinfacht ausgedrückt ist R0 = a ∙ b ∙ c, wobei a hier für die Anzahl der Kontakte eines Infizierten pro einer bestimmten Zeiteinheit steht, b für die Wahrscheinlichkeit der Infektion bei Kontakt und c für die mittlere Dauer der Infektiösität. Die Aufstellung von a, b und c ist dabei ein sehr komplexer mathematischer Vorgang.

Die Belastung des Gesundheitssystems ergibt sich nun mit Blick auf die Zahl der stationär aufgenommenen und intensivmedizinisch betreuten Patienten. Wissenschaftler um den Physiker Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung Systemimmunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, haben diese Daten mit der Reproduktionszahl in einer Modellrechnung in Verbindung gebracht. Bei einer Reproduktionszahl von 1, wie sie derzeit in den meisten Bundesländern erreicht ist, wären deutschlandweit auf ein ganzes Jahr gesehen dauerhaft 10 000 Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt. Deutschland besitzt laut Krankenhausgesellschaft nun rund 40 000 Intensivbetten, wobei man hierbei nicht die herkömmlichen Intensivfälle außer Acht lassen darf. Das Gesundheitssystem würde in diesem Szenario nicht überlastet, sagen die Forscher. 

Würde die Reproduktionszahl wieder auf ein Niveau von vor einigen Wochen steigen, würden innerhalb weniger Monate Hunderttausende Menschen einen Intensivplatz benötigen. Das Gesundheitssystem würde kollabieren. Wie in Italien. Denn mit steigendem R0-Wert entwickelt sich die Kurve der Infektionsfallzahlen wieder zunehmend exponentiell.Das Ziel muss also stets R0 kleiner gleich 1 sein. Unter 1 nähme die Verbreitung des Virus ab. Bei R0 = 0,5 würden vier Infizierte zwei weitere Personen anstecken, die dann wiederum nur noch eine Person anstecken.

Warum werden die Maßnahmen nun gelockert?

Lagerkoller und die Wirtschaft sind die Antworten. Die Corona-Beschränkungen schlagen aufs Gemüt. Noch halten sich die allermeisten Menschen an die Richtlinien, doch wer sich auf einen Spaziergang in den Wald begibt, sieht auch, dass sich die Ausnahmen mehren. Einige haben mittlerweile schlichtweg die Schnauze voll. Der Mensch ist auf andere Menschen angewiesen. Er braucht ihre Nähe, nicht nur ein Bild in einer verwackelten Video-Übertragung. Die Betriebe fahren schon seit einigen Wochen mit angezogener Handbremse. Auch das belastet. Ökonomen warnen bereits vor einer noch nie dagewesenen Rezession.

„Epidemiologisch gesehen ist jede Lockerung falsch“, mahnt Michael Meyer-Hermann. Ein Zusammenleben mit dem Virus, bis es einen Impfstoff gibt, würde sehr lange dauern. „Ich hätte es bevorzugt, wenn wir versucht hätten, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine wirkliche totale Bremse zu ziehen, damit wir in einer absehbaren Zeit zu einer großen Normalität zurückkehren können“, so Meyer-Hermann.

Was wäre die Folge gewesen?

Wenn man die Idee weiterspinnt, ist man nicht mehr sehr weit weg vom Lockdown, den China durchgeführt hat. Millionen Menschen wurden quasi zu Hause eingesperrt, der Kontakt zu anderen auf ein Minimum beschränkt. In der westlichen Welt kaum vorstellbar, doch mit der einzige Weg, wenn wir schnell aus der Krise heraus wollen. Höchstwahrscheinlich wird es nie so kommen, und höchstwahrscheinlich ist das auch gut so. Denn die strikte Quarantäne würde um ein Vielfaches mehr aufs Gemüt der Menschen drücken als die bisher ergriffenen Maßnahmen. Bund und Länder werden also wohl stets eine Taktik fahren, bei der das Virus uns begleiten wird, bis wir einen Impfstoff haben.

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