Bundesparteitag der Grünen Der geplatzte Traum der „wilden 14“

Berlin · Für Grüne sei der „Weg nach Jamaika am weitesten gewesen“. Aber man hätte diese Koalition gewagt, denn: „Erst kommt das Land und dann die Partei.“

 Eine Stimmung wie nach einem Sieg: Die „wilden 14“, das Jamaika-Verhandlungsteam der Grünen, auf dem Bundesparteitag in Berlin.

Eine Stimmung wie nach einem Sieg: Die „wilden 14“, das Jamaika-Verhandlungsteam der Grünen, auf dem Bundesparteitag in Berlin.

Foto: dpa

Der Balkon der Republik. Für vier Wochen. Cem Özdemir ist gedanklich noch einmal rausgegangen auf diesen Balkon des Gebäudes der Parlamentarischen Gesellschaft, einfach mal Luft schnappen. Und er nimmt einen ganzen Parteitag dabei mit. Großes Kopfkino. Özdemir sagt, er habe sich in diesen Minuten der Auszeit während der Sondierungsgespräche manchmal gefragt, „ob ich nicht lieber eine Hanfpflanze neben mir stehen hätte als den einen oder anderen Mit-Sondierer der anderen Parteien“.

Harte, schwierige, schmerzhafte Kompromisse mit lange gepflegten politischen Gegnern. Für Grüne sei der „Weg nach Jamaika am weitesten gewesen“. Aber man hätte diese Koalition gewagt, denn: „Erst kommt das Land und dann die Partei.“

Um 11.08 Uhr sind die rund 800 Delegierten des Grünen-Parteitages erstmals aufgestanden. Applaus für Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, die beiden Spitzenkandidaten der Bundestagswahl und Chefunterhändler während der Jamaika-Sondierungen. Gekämpft, Kompromisse angeboten, nicht am Ziel einer Regierungsbeteiligung angekommen. Özdemir erzählt über „Alphatierchen, testosterongesteuert“. Er meint die FDP. „Wer weiß, wie die Verhandlungen ausgegangen wären, wenn die FDP nicht so ein Männerclub wäre, wer weiß?“

Sündenbock gefunden

Und dann soll es an diesem verregneten Samstag auch der Rest der Republik wissen: „Der Ausstieg der FDP aus den Verhandlungen, der war nicht inhaltlich, sondern der war taktisch begründet“, ruft Özdemir in den Saal. Bundestagsfraktionsvize Katja Dörner nennt denn auch die Gespräche über Jamaika „für uns Grüne einen Ritt auf der Rasierklinge“. Und sie wisse auch nicht, was man dem Parteitag womöglich empfohlen hätte: Glas halb leer oder Glas halb voll? Göring-Eckardt sagt etwas später über die FDP: „Christian Lindner ging es um Christian Lindner.“

Dies könne man machen, okay, aber dann dürfe man das Scheitern von Jamaika „nicht auf Angela Merkel und nicht auf die Grünen schieben“. Sündenbock gesucht – und gefunden. „Dieses Mimikry, das geht nicht mit uns“, sagt Göring-Eckardt über den Kurs der FDP. Erst antäuschen, dann abtauchen. Der Parteilinke Jürgen Trittin sagt über die Mitbewerber des politischen Liberalismus: „Die FDP von heute, die Liste Christian Lindner, ist eine rechte bürgerliche Protestpartei.“

Sieben Gigawatt weniger Braunkohleverstromung bis 2020 wären erreicht worden, wenn Jamaika funktioniert hätte. Umgerechnet 40 Millionen Tonnen weniger Ausstoß von Kohlendioxid. Applaus. Und niemals hätten die Grünen einem Ergebnis zugestimmt, wenn der Familiennachzug für Flüchtlinge nicht in einem Vertrag gestanden hätte, versichert Özdemir. Aber bitte, es habe einfach nicht gereicht.

Özdemir warnt

Jetzt, für zehn Stunden eines Samstages, sind die Grünen wieder dort, wo sie am liebsten sind: unter sich. Aber Parteichef Özdemir warnt auch vor dem Biotop des Parteitags: „Grüne mit Grün zusammen ist manchmal gefährlich, vor allem wenn’s lang dauert.“ Julia Verlinden vom Kreisverband Lüneburg lobt die eigene Basis, „weil wir diskutieren, bis es uns zu den Ohren rauskommt“. Claudia Roth kann ein Grünen-Treffen normalerweise nicht lang genug dauern. Roth spricht über Inhalte, Werte, Kompass: „Treue ist und bleibt grüne Primärtugend.“ Das kommt bei der Basis immer gut an.

Ingrid Nestle vom Kreisverband Kiel ist dann auch schnell in Kolumbien, Amazonasgebiet. Großes Indianeranliegen. Grüne mögen sich dafür einsetzen, den Regenwald zu schützen, den Braunkohleabbau zu stoppen. In Kiel regiert seit diesem Sommer eine Jamaika-Koalition von CDU, FDP und Grünen. Nestle sagt, Jamaika im Bund wäre schmerzhaft gewesen, dies hätte „Bauchgrimmen bis zur Kolik“ ausgelöst.

Fraktionschef Toni Hofreiter listet noch einmal auf, was möglich gewesen wäre: Agrarwende, Treibhausgas-Reduktion, wieder „Deckel weg für erneuerbare Energien“, eine Art Garantierente. Dies alles wäre möglich, „wenn nicht die FDP panisch vor ihrer Verantwortung weggelaufen wäre“. Doch es hilft alles nichts. Also Blick nach vorne. Der nächste Bundestagswahlkampf kommt bestimmt.

"Geist der Sondierung" bewahren

Hofreiter bittet die Delegierten darum, den „Geist der Sondierungen“ zu bewahren, die neu geschaffene Gemeinsamkeit der Partei nicht aufs Spiel zu setzen. „Nicht wieder alter Streit“, ruft er in den Saal. Die Grünen seien „die letzte progressive linke Partei“ dieser Republik.

Doch zunächst müssen sich die Grünen wieder auf Opposition einstellen, auch wenn der Parteitag eine Beteiligung an einer Minderheitsregierung mit der Union nicht ausschließt. Parteichefin Simone Peter zieht denn auch über die SPD her, die nach acht Wochen Opposition offenbar genug davon habe und nun „zurückkehren wird in den Schoß der Kanzlerin“.

Doch vorher versammelt Göring-Eckardt das grüne Sondierungsteam vor dem Parteitag. Große Bühne für „die wilden 14“, wie sie sich nach vier Wochen in Dauerklausur nennen. Fast sieht es so aus, als hätten die Grünen mit dieser Mannschaft gerade die Champions League gewonnen, jedenfalls den Eintritt in die Bundesregierung geschafft. Jubel, Mannschaftsfoto, Claudia Roth klatscht wie in der Fankurve. Vom Band läuft Musik: das A-Team. Sie müssen jetzt mal träumen. Vom Horizont hinter Jamaika.