Gregor Gysi Der Linken-Lotse geht von Bord
BIELEFELD · Er liebt die Inszenierung. Und er weiß, wie man Spannung aufbaut. Gregor Gysi hat diesen letzten Knalleffekt lange vorbereitet und mit der Sorgfalt eines Theaterregisseurs choreografiert. Anspielungen, raunende Interviews, alles im Vagen lassen. So dominierte das Warten auf diesem linken Parteitag.
Einen langen Sommersamstag lang quälten sich die Delegierten durch Leitanträge, Änderungsanträge und Positionspapiere. Das, was alle tatsächlich interessierte, wurde vor dem Saal bei Kaffee und Zigaretten diskutiert: Geht er oder bleibt er?
Erst gestern lichtete sich der Nebel. Mit dem ersten Satz fällt die Entscheidung: "Liebe Genossinnen und Genossen, heute spreche ich zum letzten Mal als Fraktionsvorsitzender zu Ihnen." Es ist mucksmäuschenstill im Saal, ein historischer Schnitt, das fühlt jeder. Beifall brandet auf, als Gysi ankündigt, sein Bundestagsmandat weiter ausüben zu wollen. Eine Kandidatur 2017 lässt er offen.
Es folgt eine Rede, die Rückblick und Vermächtnis ist. "Geliebt, gehasst, angebetet" sei er worden, und unter allem habe er gelitten. Er erinnert an den Hass, der ihm im Bundestag teilweise entgegengeschlagen sei. Aber er dankt auch der FDP, die als einzige andere Fraktion darauf bestand, dass eine IM-Tätigkeit Gysis nicht erwiesen sei. Er würdigt Hans Modrow, er dankt seinen Mitarbeitern, seinen Fahrern und Helfern. Seine Stimme zittert nicht nur einmal.
Es ist förmlich zu spüren, wie bei jedem Delegierten sein persönlicher Rückblick im Kopf abläuft: Vieles hat Gysi erreicht. Manches nicht. Er hat seiner Partei, die auf so viel Vorbehalt im Westen gestoßen war, ein Gesicht, einen Kopf, einen Charakter gegeben. Gysi war kein bierernster Ideologie-Verwalter, kein Apparatschik, sondern ein schillernder, kluger und immer zu Ironie und Selbstironie fähiger Intellektueller - sicher in Talkshow und im Bundestag, wo er zum wortgewaltigen Widerpart der jeweiligen Bundesregierung aufstieg. Er hat sich Respekt erarbeitet.
Aber ein Gescheiterter ist er auch. Die dauerstreitenden Teile seiner Partei hat er nicht einen können. Die besserwissenden Alt- und Dauerlinken aus dem Westen gegen die Beton-Genossen aus ostigen Urzeiten. Oder die Reformer, die auf parlamentarische Bündnisse setzen, gegen die Fundamental-Oppositionellen, die keine Kompromisse schließen wollen und gegen die Parlamente die Macht der Straße in Stellung bringen wollen.
Es sind genau diese Konflikte, die Gysi leiden lassen. Denn seinen ganz großen Traum wird er sich wohl nicht erfüllen können: die Beteiligung der Linken an einer Bundesregierung scheint 2015 so undenkbar wie zur unmittelbaren Nach-Wendezeit. Der größte Gysi-Traum zerschellt am Trotz der eigenen Partei.
Das wurde in Bielefeld deutlich. Gysi mag darin eine bitterböse Ironie erkennen. Die Linken haben gerade in Hamburg und Bremen erstaunliche Wahlerfolge eingefahren. In Thüringen stellen sie mit Bodo Ramelow ihren ersten Ministerpräsidenten. Es läuft doch eigentlich alles wie auf Schienen in Richtung eines weiteren Hineinwachsens der Linken in regierendes Mitgestalten. Nur eigentlich.
Denn die Partei will sich nicht überdehnen lassen. Einen Samstag lang hatten die Delegierten den Parteitag in eine revolutionäre Wärmestube verwandelt, in der die Gesetze des Marktes nicht gelten und der Sozialismus aus Druckerschwärze und Papierbergen neu aufsteigt. Der Parteitag leistete sich eine lange Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen von über 1000 Euro für jeden Erwachsenen. Das ist wohlgemerkt keine Spielwiese für Parteisektierer. Das bedingungslose Grundeinkommen wurde selbst von der Co-Parteichefin Katja Kipping vertreten.
Das passt Gysi nicht. Aber damit hält er sich heute nicht auf. Er schreibt zum Schluss seiner Partei Grundsätzliches ins Stammbuch. Sie brauche "ein zutiefst kritisches Verhältnis zum Staatssozialismus". Die Linke sei auch die Partei der kleinen und mittleren Unternehmer, auch ihre Interessen müsse die Linke vertreten. Und auch das sagt er: "Der letzte Zweck der Politik muss ein Mehr an Kultur sein." Und die Linke müsse - man höre! - "eine Partei des Erlaubens sein, aber nicht eine Partei des Verbietens" werden.
Er will eine Partei, die gestalten soll. Die Linken seien eine "Zehn-Prozent-Partei, keine 50-Prozent-Partei". Sie müsse Kompromisse machen. Die Linke habe mit ihrer Integration ins geeinte Deutschland das Land normalisiert. Nun müsse sie sich selbst normalisieren: "Wir können und sollten auch im Bund mitregieren wollen - selbstbewusst und ohne falsche Zugeständnisse." Er malt aus, was Linke alles erreichen könnten in einer Bundesregierung: mehr Steuergerechtigkeit, mehr Friedenspolitik, Schritte zur Bürgerversicherung, bessere Bezahlung für Frauenberufe. "Wir haben nicht das Recht, uns um Schwierigkeiten zu drücken", sagt er.
Ein Vermächtnis, nicht weniger. Zuletzt eine tränenerstickte Entschuldigung an seine Freunde und Familien, denen er zu wenig Zeit gewidmet habe: "Es tut mir sehr, sehr leid." Und dann ein schlichtes "Danke". Ein schwerer Abschied, eine große Rede und endlose Ovationen. Laut übertönt er die Probleme der Partei.