Tod von Günter Grass Der umstrittene Gigant

Vor drei Jahren waren die beiden großen alten Männer der deutschen Nachkriegsliteratur, Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, noch einmal heftig aneinandergeraten.

Mit der rauchenden Pfeife unterm Schnauzbart: Günter Grass, wie er in Erinnerung bleiben wird.

Mit der rauchenden Pfeife unterm Schnauzbart: Günter Grass, wie er in Erinnerung bleiben wird.

Foto: dpa

Grass hatte am 4. April 2012 sein "mit letzter Tinte" geschriebenes Gedicht "Was gesagt werden muss" in den Zeitungen La Repubblica, El País und der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Die umstrittenen Verse zielten auf den israelischen Staat, dem der Dichter vorwarf, einen nuklearen Präventivschlag gegen den Iran zu planen. Viele Politiker und Kollegen sahen in dem Gedicht ein antisemitisches Pamphlet, und auch Reich-Ranicki reagierte empört.

In einem Interview der FAZ sprach der schon zurückgezogen lebende Kritiker davon, dass Grass eine Gemeinheit geschrieben habe, "und diese Gemeinheit ist von ihm aus gesehen ungemein erfolgreich". Tatsächlich hatte der Literaturnobelpreisträger Grass lange nicht mehr so viel Aufmerksamkeit erhalten wie in den Tagen nach der Veröffentlichung der literarisch eher dürftigen Verse.

Die Kritiken von Reich-Ranicki haben das ganze Schriftstellerleben des am Montag im Alter von 87 Jahren in Lübeck verstorbenen Günter Grass begleitet. Sehr zum Verdruss des Autors. Denn Reich-Ranicki hatte bereits sein legendäres Romandebüt "Die Blechtrommel" verrissen. "Ein origineller und überdurchschnittlicher Schreiber, ganz gewiss", notierte er im Januar 1960 in der "Zeit", "aber doch von der Sorte jener geigenden Zigeunervirtuosen, deren effektvolles Spiel das Publikum zu hypnotisieren vermag."

Distanz von Reich-Ranicki zu Grass' Werk gipfelte im offenen Brief an Grass

Später hat Reich-Ranicki das Urteil zwar revidiert, aber die kritische Distanz zum schriftstellerischen Werk von Grass blieb bestehen und gipfelte in einem offenen Brief an Grass, den der "Spiegel" im August 1995 unter der Überschrift "... und es muss gesagt werden" als Titelgeschichte veröffentlichte. Dass Grass diese Überschrift 17 Jahre später für sein Israel-Gedicht modifizierte, zeigt, wie tief der Schriftsteller sich verletzt fühlte.

Das dazugehörige "Spiegel"-Cover zierte eine Fotomontage, die den Kritiker zeigte, wie er Grass' Roman "Ein weites Feld" in der Luft zerreißt. Damals sagte Grass über Reich-Ranicki: "Wir haben ja zwei polnische Päpste. Der eine, in Rom, meint unfehlbar in Fragen sexueller Praxis zu sein. Ich habe da meine Zweifel. Der andere, in Frankfurt, meint unfehlbar im Urteil über Literatur zu sein. Auch da habe ich meine Zweifel." Reaktionen zum Tod von Günter Grass:

Der vielleicht wichtigste deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit

Doch auch ohne die Hilfe von Deutschlands einflussreichstem Literaturkritiker gelang es Grass, zum vielleicht wichtigsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit zu werden. 1999 war er nach Heinrich Böll der zweite Deutsche nach dem Krieg, der den Literaturnobelpreis erhielt. Und er war eine politisch-moralische Instanz, die für Willy Brandt in den Wahlkampf zog, später zum Protest gegen die Kernkraft rief und mit demselben Eifer gegen die seiner Ansicht nach verfehlte Rechtschreibreform wetterte.

Erst vor kurzem hatte er im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt vor den Gefahren eines dritten Weltkriegs gewarnt. "Ich bin ein lebenslustiger Pessimist", beschrieb der Mann, den man mit Lesebrille und brennender Pfeife unterm mächtigen Schnauzbart in Erinnerung behalten wird, sich selbst.

Sein Ruf als Mahner

Den Ruf als Mahner hatte Grass sich früh erworben. Schon die "Blechtrommel" war aus dem Impuls heraus entstanden, gegen das Vergessen schreiben zu wollen. Kein Schriftsteller vor ihm hatte den Alltag in der Nazi-Zeit so sprachgewaltig und bilderreich beschrieben wie der junge Grass in seinem Romandebüt, das in Volker Schlöndorffs kongenialer Verfilmung 1979 sogar zu Oscar-Ehren kam. Bereits vor der Veröffentlichung erhielt Grass nach einer Lesung aus dem Manuskript 1958 den Preis der Gruppe 47, der er seit 1957 angehörte und deren Zusammenkünfte ihn Jahre später zu seiner wunderschönen Novelle "Das Treffen in Telgte" inspirierten.

Natürlich enthält der erste Teil der Danziger Trilogie, der noch "Katz und Maus" (1961) und "Hundejahre" (1963) angehören, bei allen burlesken Verzerrungen viel autobiografisches Material. In der "Blechtrommel" erzählt Grass aus der Perspektive des kleinwüchsigen Oskar Matzerath vom heraufziehenden Nationalsozialismus. Oskar, der im Alter von drei Jahren aus Protest zu wachsen aufhört, begleitet seine komplett aus dem Gleichgewicht geratende Umwelt mit spitzen, Glas zum Bersten bringenden Schreien und den schnarrenden Schlägen seiner Blechtrommel.

Anders als Oskar in "Die Blechtrommel" war Grass nicht gegen die Lockungen des Nationalsozialismus immun

Grass wurde wie sein Held in Danzig geboren, am 16. Oktober 1927. Er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf. Sein Vater war Protestant, seine Mutter Katholikin kaschubischer Abstammung. Doch Grass selbst war, anders als der kleine Oskar, gegen die Lockungen des Nationalsozialismus nicht immun. Als 15-Jähriger meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, mit 17 wechselte er zur Waffen-SS - was erst durch seine 2006 erschienene autobiografische Schrift "Beim Häuten der Zwiebel" bekannt wurde und vorübergehend für Risse im Bild des integren Moralisten sorgte. Eine Auswahl seiner Werke:

Grass war ein universaler Künstler, der erst in den späten 50er Jahren zum Schreiben fand. Zuvor hatte er in der Nähe von Bergheim ein Bildhauer-Praktikum absolviert und an der Kunstakademie Düsseldorf Grafik und Bildhauerei studiert - viele seiner Bücher versah er mit eigenen Illustrationen.

Der Familienmensch

Und er war ein Familienmensch. In den späten 50er Jahren lebte er mit seiner Frau Anna Schwarz in Paris, wo nicht nur das Manuskript der "Blechtrommel" entstand, sondern auch zwei der vier gemeinsamen Kinder zur Welt kamen. Zuletzt wohnte Grass mit seiner zweiten Frau Ute in Behlendorf südlich von Lübeck. Die Hansestadt beherbergt seit 2002 das Günter-Grass-Haus, das Leben und Werk des Autors gewidmet ist.

Im selben Jahr 2002 erschien Grass' Novelle "Im Krebsgang", die vom Untergang der mit deutschen Flüchtlingen besetzten "Wilhelm Gustloff" erzählt. Mit der Beschreibung des Leids deutscher Flüchtlinge hatte der Autor ein Tabu gebrochen und noch einmal mit einem größeren Werk eine deutsche Debatte ausgelöst. Mehr kann ein Schriftsteller von seinem Buch nicht verlangen.

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