Umzug von Bonn nach Berlin Deutschland gleich Berlin?
Bonn · Der Bonner Unternehmensberater Hermann Simon warnt davor, alle staatlichen Funktionen auf die Hauptstadt zu konzentrieren. In einem Gastbeitrag fordert er die Bundesstadt auf, für Dezentralisierung zu kämpfen.
Die Diskussion um die Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin tritt in eine neue, heiße Phase. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat den Auftrag erhalten, sich um eine Lösung zu kümmern. Ob sich hier schon ein „Endgame“, das heißt eine endgültige Aufteilung, abzeichnet, ist zu bezweifeln. Wahrscheinlicher ist, dass der Rutschbahneffekt in kleinen Schritten weitergeht.
Das ist ein bisschen wie mit dem Frosch. Wirft man ihn in heißes Wasser, springt er raus und überlebt. Erhitzt man das Wasser hingegen allmählich und in kleinen Schritten, hat man am Schluss einen gekochten Frosch. Bonn muss aufpassen!
Wie immer kommt es auf die Personen an, die an den entscheidenden Hebeln sitzen. Deutschlandweit gibt es drei Gruppen. Die größte Gruppe dürften die Gleichgültigen bilden. Ihnen ist egal, ob ein Ministerium, ein Verband oder eine ähnliche Organisation nach Berlin umsiedelt.
Die zweite, nicht zu unterschätzende Gruppe sind die Zentralisten, die möglichst viel nach Berlin holen wollen. Die dritte, vermutlich kleinste Gruppe sind die überzeugten Föderalisten, die sich aktiv für Bonn und auch für andere dezentrale Standorte in der Bundesrepublik einsetzen.
Ich habe in der Wirtschaft viele Standortentscheidungen erlebt. Die weitaus meisten fallen nicht nach objektiven Kriterien, sondern nach den Präferenzen der jeweiligen Machtinhaber. Selbstverständlich werden scheinbar objektive Argumente vorgetragen, wenn es um die Begründung der spezifischen Standortwahl geht. So werden die Pro-Berlin-Zentralisten primär mit Kosten- und Zeiteinsparungen bei Reisen argumentieren.
Gegenüber solchen harten Daten haben die weicheren Vorteile der Dezentralisierung, die viel bedeutender sind, einen schweren Stand. Umso wichtiger ist es, dass diese Vorteile den Entscheidern bewusst gemacht werden.
Deutschland ist das dezentralisierteste Land der Welt. Ich sehe dies als einen extrem wichtigen Wettbewerbsvorteil an. Natürlich hat diese Dezentralität ihren Ursprung in der Geschichte. Anders als beispielsweise Frankreich oder Japan war Deutschland historisch betrachtet kein Nationalstaat, sondern eine Ansammlung von kleinen Staaten.
Bis 1918 gab es in Deutschland 23 Monarchien und drei Republiken. Im Ersten Weltkrieg kämpften das bayerische und das württembergische Heer neben dem preußischen. Alle diese Staaten hatten ihre eigenen Hauptstädte, und auf diesem Fundament steht unsere föderale Struktur.
Stellen wir diesem Konzept zentralistische Länder, und dies sind die meisten, gegenüber, so zeigen sich fundamentale Unterschiede. Diese beginnen mit einer speziellen Art von „Klassengesellschaft“. In Ländern wie Frankreich, Japan, Korea, dem Vereinigten Königreich gibt es meinem Eindruck nach „zwei Klassen“. Die erste Klasse lebt in der Hauptstadt, die zweite Klasse im Rest des Landes. Die Bevölkerung der Hauptstadt macht nicht selten 20 Prozent oder mehr der Gesamtbevölkerung des Landes aus.
In Deutschland entfallen auf Berlin nicht einmal fünf Prozent. Noch gravierender ist die Konzentration politischer, kultureller und wirtschaftlicher Intelligenz in den zentralistischen Hauptstädten. Das gilt für die Politik und die Unternehmen gleichermaßen. Von den 32 französischen Größtunternehmen (Fortune Global 500) sitzen 30 im Großraum Paris. Das sind sage und schreibe 94 Prozent! Mit anderen Worten: Alles ist in Paris.
In Deutschland sitzt nur eines der Fortune Global 500-Größtunternehmen, die Deutsche Bahn AG, in Berlin. Und was tun die hochintelligenten Leute, die in diesen großen hauptstädtischen Organisationen arbeiten? Mit einem beträchtlichen Teil ihrer Intelligenz und Energie halten sie sich gegenseitig in Schach bzw. kämpfen um ihre Karrieren.
Wie sieht das demgegenüber in einem dezentralisierten Land wie Deutschland aus? Hier sind politische Institutionen und Unternehmenszentralen wesentlich gleichmäßiger verteilt. Dies gilt für die Wirtschaft noch stärker als für die Politik. So haben zwei Drittel der Hidden Champions, der deutschen mittelständischen Weltmarktführer, ihre Zentrale in kleineren Städten bzw. sogar Dörfern.
Diese Verteilung hat zahlreiche Vorteile. Die genauso intelligenten Menschen in diesen dezentralen Einheiten verwenden ihre Intelligenz und Energie auf die ihnen gestellten Aufgaben und weitaus weniger auf interne Karrierepolitik.
Zudem ist die Dezentralisation ein sehr wirksames Instrument zur Risikostreuung. Wenn in Berlin ein großer Fehler gemacht wird, geht es vielleicht um zehn Milliarden. Passiert der gleiche Fehler in einem Bundesland, steht im Durchschnitt nur ein Sechzehntel dieser Summe auf dem Spiel. Dezentralität ist eine der hervorragenden, aber wenig verstandenen Stärken Deutschlands. Diese sollten wir unbedingt verteidigen. Ich hoffe, dass auch unsere Politiker und insbesondere die Bundestagsabgeordneten das verstehen.
Welche Rolle spielen nun Bonn und Berlin in dieser Entwicklung? Kürzlich zählte ich von meinem Hotelfenster in Berlin 31 Baukräne. Die Situation erinnert an die neunziger Jahre unmittelbar nach der Wiedervereinigung. Ich vermute, dass ein Großteil der Kräne für den Bau öffentlicher Gebäude in Betrieb ist. Berlin wächst stark.
Hier scheint mir eine Analogie aus der Physik angebracht. Mit der zunehmenden Größe und Wucht Berlins steigt seine Anziehungskraft, so wie die Schwerkraft eines Himmelskörpers mit größerer Masse zunimmt.
Von dieser Zentripetalkraft ist keineswegs nur Bonn betroffen. Das auffälligste Symbol einer zunehmenden Zentralisierung ist für mich das neue Hauptquartier des Bundesnachrichtendienstes(BND) in Berlin. Wenn ich mir ein bürokratisches, in Beton gegossenes Monster ausdenken müsste, würde es etwa so aussehen wie die neue BND-Zentrale in Berlin. Dort sollen in Zukunft 5000 Menschen arbeiten. Was machen diese Leute eigentlich?
Der BND ist bekanntlich für Auslandsnachrichten zuständig. Diese hätte man weiterhin in Pullach (Bayern) genauso gut sammeln und analysieren können wie in Berlin, bzw. ein Großteil der Aufklärung muss ohnehin vor Ort im Ausland geschehen. Um die Ergebnisse der Bundesregierung vorzustellen, braucht man keine 5000 Leute in Berlin.
Meine Erwartung ist, dass sich diese Leute im Wesentlichen gegenseitig beschäftigen. Ich habe genügend viele große Organisationen kennen gelernt, um zu wissen, wovon ich rede. Und der BND-Umzug ist keineswegs ein Einzelfall. Am 1. März 2016 schreibt die FAZ: „Frankfurt hat schwer am Umzug der Regierung nach Berlin gelitten, was bei den Diskussionen um Bonn und Berlin oft vergessen wird.“
Deutschland muss seine Dezentralität verteidigen. Und Bonn muss aufpassen!
Bonn kann als Bundesstadt einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung und Stärkung unserer Dezentralität leisten. Ob es gelingt, die Ministerien in Bonn zu halten, kann ich nicht beurteilen. In jedem Falle hielte ich es für wünschenswert, die Ministerien auf die unbedingt notwendigen Aufgaben zu beschränken. Alle darüber hinausgehenden Aufgaben können an oberste Bundesbehörden delegiert werden und werden dort vermutlich schneller und besser erledigt.
Mir ist bewusst, dass diese Empfehlung der natürlichen Tendenz großer Organisationen, sich weitere Fettschichten zuzulegen, zuwiderläuft. Umso wichtiger ist es, dass sie von Politik und Verwaltung verstanden wird. Die Hidden Champions, ohne Zweifel Weltklasseunternehmen, zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie etwas „zu wenige“ Mitarbeiter haben. Umgekehrt gilt, dass zu viele Leute an Bord Effizienz- und Produktivitätskiller sind. Die besten Unternehmen operieren dezentral und delegieren viele Kompetenzen an die operativen Einheiten, statt sie in der Zentrale zu konzentrieren.
Bonn bewegt sich dabei in einem komplexen Netz von Interdependenzen. Als Uno-Standort macht Bonn nur Sinn, wenn korrespondierende Bundesinstitutionen in Bonn angesiedelt sind. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft oder den Gesundheitsbereich. Es handelt sich hier um Cluster, zu denen Bundesinstitutionen, Verbände, Zulieferer und spezialisierte Dienstleister wie Rechtsanwälte oder Berater gehören.
Bricht man aus diesen Netzwerken einzelne Steine heraus, ist das ganze Cluster auf Dauer gefährdet. Insofern sollte Bonn massiven Widerstand nicht nur gegen den Abzug von Ministerien, sondern auch gegen die Verlagerung bestimmter Verbände, Behörden oder ähnlicher Organisationen nach Berlin leisten. Meistens sind solche Wegzüge ohnehin von wenigen Personen getrieben. Rücksicht auf die Arbeitnehmer wird dabei in den seltensten Fällen genommen.
Wer sind nun die Personen, auf die Bonn im Kampf um die Dezentralität setzen sollte? Innenminister de Maizière, obwohl in Bonn aufgewachsen, scheint nicht dazu zu gehören. Ob Umweltministerin Hendricks sich wirklich für Bonn einsetzt, ist fraglich. Die wichtigsten Rollen fallen ohne Zweifel Oberbürgermeister Sridharan und dem Landrat des Rhein-Sieg Kreises Schuster zu. Der Kreis Ahrweiler sollte unbedingt eingebunden werden.
Eine Schlüsselrolle dürften die Bonner Bundestagsabgeordneten Kelber, Lücking-Michel und Dörner spielen. Ob ihre Macht in Berlin ausreicht, für Bonn vernünftige Lösungen zu finden, lasse ich als Frage offen. Eine starkes Gewicht kann das Land Nordrhein-Westfalen einbringen. Ministerpräsidentin Kraft könnte sich allerdings in dieser Hinsicht stärker profilieren.
Bonn sollte auf den Chef der Staatskanzlei Staatsekretär Lersch-Mense setzen. Er ist Bonner und hat klar pro Bonn Stellung bezogen. Auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer scheint eine entschiedene Befürworterin von Dezentralität und der diesbezüglichen Rolle Bonns zu sein. Bonn sollte zudem Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz für sich begeistern, denn möglicherweise wird sie die nächste Ministerpräsidentin. Gespräche mit anderen Bundesländern sind sinnvoll und notwendig, um klar zu machen, dass es hier um das Grundthema Dezentralität und damit um alle Bundesländer geht.
In Bonn und Umgebung leben viele ehemalige Bundesminister wie Genscher, Clement, Kinkel, Blüm, Steinbrück, Münterfering, Westerwelle, um nur einige zu nennen. Ob sie noch viel Einfluss in Berlin haben? Zumindest sollte man sie ansprechen und um ihren Einsatz für Bonn bitten. Ich glaube, dass diese ehemaligen Bundesminister den Wert der Dezentralität besser verstehen als manche der heutigen Berliner Minister.
Nicht zuletzt sollte man einen Einsatz für Bonn von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und Bundesjustizminister Heiko Maas erwarten. Beide Minister arbeiten häufig in Bonn, da es näher an ihren westdeutschen Heimatorten liegt. Bonn muss alle Kräfte mobilisieren. Ich habe nichts gegen Berlin, aber ich sehe Zeichen zunehmender zentralistischer Tendenzen. Als entschiedener Verfechter von Dezentralität und Subsidiarität hoffe ich, dass Bonn für diese Werte kämpft.