Günter Grass' politisches Engagement Dichter im Wahlkampf

BERLIN · 1976 trat Heinrich Böll, der literarische Weggefährte, Konkurrent und Begleiter des verstorbenen Günter Grass, aus der katholischen Kirche aus. Aus der Amtskirche, wie er betonte, nicht aus dem corpus cristi mysticum. Und er ging weiter zur Messe.

 Parteilich: Die Autoren Günter Grass und Thaddäus Troll mit Herbert Wehner und Willy Brandt.

Parteilich: Die Autoren Günter Grass und Thaddäus Troll mit Herbert Wehner und Willy Brandt.

Foto: dpa

Diese leidensfrohe und hoffnungsblasse Transzendenz-Geneigtheit war nie die Sache des Günter Grass. Seine Sprache, seine kraftstrotzende Kontur, verrieten eine trotzige, barocke Diesseitigkeit, eine diebische Freude an Streit und Wortgefecht, an Provokation und Eklat.

Ausgetreten ist er dann auch. Nicht aus der Kirche, aber aus der SPD, und vielleicht ist das nicht ganz dasselbe, aber auch nicht etwas völlig anderes. Denn auch Grass ging nicht so ganz. Der Amts-SPD sagte er 1993 Lebewohl. Aus Protest gegen deren Mittun am Asyl-Kompromiss. Aber als Teil der sozialdemokratischen Idee hat er sich auch danach immer verstanden. Mag sein, dass er sich sogar als deren Hüter verstand, denn bescheiden war Grass nie. Unverdrossen hat er weiter Wahlkampf gemacht: Für Heide Simonis, für Gerhard Schröder, für Frank-Walter Steinmeier, in Maßen sogar für Peer Steinbrück. So viel Einmischung musste sein.

Aber das waren zweite, dritte, vierte Aufgüsse. Kopien von Kopien. Denn all die Podiumsdiskussionen, Lesungen und Reden im Dienste eines weiteren Kanzlerkandidaten waren Reprisen, die allesamt das große Urbild beschworen: Die 60er Jahre und das emphatische Engagement des jungen Intellektuellen für Willy Brandt, dem er mit all seinem Pathos, zu dem er fähig war, den Weg bereitete. Er redigierte Brandts Reden im Wahlkampf 1961. Drei Jahre später war er selbst Redner in 50 Städten.

1969 dann der Kulminationspunkt: 31 000 Kilometer tourte Grass durch Deutschland, um seine Botschaft herauszutrommeln: dass es Zeit sei für Aufbruch, Reform und Versöhnung mit dem Osten. Kultur und Politik. Das schien plötzlich eine Einheit zu sein. So wie Brandt Tabus brechen wollte im Politischen, hatte es Grass in der Literatur selbst getan, in der "Blechtrommel", in "Katz und Maus". So sah er es. So sah es die öffentliche Meinung. Der Trend war ein Genosse und Grass verkörperte den neuen Geist.

Diese glutvolle Zeit der Veränderung, der Versöhnung von Macht und Geist, fand in Grass seine Ikone. Aber irgendwann konnte man sich die Frage stellen, ob Grass immer auf der Höhe der Zeit geblieben ist. Seine Lust an der Zuspitzung blieb. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Als der sozialdemokratische Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, am 3. Oktober 1990 die Worte sprach: "Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt" - da fühlte sich Grass nicht gemeint.

Er hatte einer Konföderation zwischen DDR und Bundesrepublik das Wort geredet. Eine gemeinsame Kulturnation, das wollte er. Ein gemeinsamer Staat, da blieb er skeptisch. Viele, die er mit herzhaften Einmischungen verletzt hatte, warteten auf die Gelegenheit zur Revanche - und Grass lieferte. 2006 veröffentlichte er das Buch "Beim Häuten der Zwiebel", in dem er einräumte, als 17-Jähriger in die Waffen-SS eingezogen worden zu sein. Da brach der Sturm los. Ausgerechnet Grass! Das war der Schlachtruf. Grass hatte so oft mit der Moralkeule zugehauen, dass die Reaktion entsprechend ausfiel. Kühl ließ Angela Merkel wissen, dass sie die Kritik verstehe.

Am Ende verstörte Grass auch langjährige Weggefährten. 2012 veröffentlichte er sein grundverunglücktes Gedicht "Was gesagt werden muss" - literarisch bedeutungslos, politisch provozierend. Er warf darin Israel "mit letzter Tinte" vor, den Weltfrieden zu gefährden. Darin heißt es: "Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang". Der besonnene Michael Naumann sah darin den Impuls, "einmal, ein einziges Mal Urlaub zu nehmen von der deutschen Verantwortungsgeschichte, einmal, ein einziges Mal den Juden zuzurufen, dass sie ja auch Täter sein können". Grass wirkte endgültig aus der Zeit gefallen.

Im Februar dieses Jahres trat Grass beim 10. Lübecker Literaturtreffen auf. Er beklagte, dass die Politik Proteste von Schriftstellern weitgehend ignoriere. Er hatte es anders erlebt. Und für einen, der den intellektuellen Nahkampf so schätzte und so grandios zu führen wusste, muss das die Hölle gewesen sein - ignoriert zu werden. Er übertrieb. Gehört hat man ihn immer - und gelesen.

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