SPD-Parteitag Die Delegierten zeigen dem Vorsitzenden die gelbe Karte

BERLIN · Zum vierten Mal seit 2009 wählen die Sozialdemokraten Sigmar Gabriel zu ihrem Vorsitzenden. Mit einem eigenartigen Beweis von Vertrauen: Mit 74,3 Prozent bekommt er das mit Abstand schlechteste Ergebnis seiner Amtszeit. Doch Gabriel erklärt sich bereit für den Kampf ums Kanzleramt und verortet seine Partei in der politischen Mitte.

 Einer dieser Tage: Sigmar Gabriel beim SPD-Parteitag. Begeisterung sieht anders aus.

Einer dieser Tage: Sigmar Gabriel beim SPD-Parteitag. Begeisterung sieht anders aus.

Foto: dpa

Der Parteitag soll sich wieder setzen. Anordnung des Vorsitzenden. Es ist 15.19 Uhr. Sigmar Gabriel hat für eine lange Minute konsterniert, das Kinn auf die Hand gestützt, seinen Platz auf dem Podium nicht verlassen. 74,3 Prozent bei seiner vierten Wahl zum SPD-Bundesvorsitzenden müssen erst einmal verkraftet und in 60 Sekunden durchdacht werden.

2009: 94,2 Prozent für Gabriel, 2011: 91,6 Prozent, 2013: 83,6 Prozent und jetzt, 2015, Absturz auf 74,3 Prozent. Rot zeigt Gelb. Gabriel geht ans Mikrofon, viele Delegierte erheben sich und verlängern ihren sehr durchschnittlichen Applaus.

Der SPD-Chef will das nicht länger hören. Er sagt: "Man muss nicht erst auf dem Stimmzettel dagegen sein und dann aufstehen." Die Delegierten setzen sich. Der Vorsitzende spricht. Was werden die Zeitungen schreiben? "Gabriel abgestraft!" Der Abgestrafte weiß, dass es stimmt: "Is' ja auch so", sagt Gabriel.

Die Partei soll wissen, was jetzt passiert. "Jedem ist klar, was ich will." Aber es gebe eben auch 25 Prozent der SPD, "die das nicht wollen". Was daraus folgt? "Aber mit der Wahl ist es dann auch entschieden. So is' Leben in der Demokratie", sagt Gabriel trotzig. Er legt noch einen nach: "Jetzt ist es mit der Mehrheit der Partei entschieden, wo es lang geht. Und so machen wir das auch. Deswegen nehme ich die Wahl an." Dass Gabriel womöglich ein schlechteres Ergebnis als 2013 einfahren könnte, hatten viele Delegierte vorher für möglich gehalten. Aber eine derartige Abfuhr für den eigenen Parteichef? Das kann nur die SPD.

Dabei hatte der Tag friedlich, harmonisch und mit einem schönen Ausblick gewonnen. Einem Blick aufs Kanzleramt. Genau, das gibt es auch noch. Für einen SPD-Vorsitzenden. Gabriel befindet sich da gerade gewissermaßen in der Verlängerung. Es ist die 106. Minute seiner Rede an den SPD-Bundesparteitag, Tag zwei.

Der 56 Jahre alte Pädagoge hat gerade einen weiten Bogen durch die internationale und nationale Politik hinter sich: Syrien-Krieg, Bundeswehr-Einsatz, Flüchtlingskrise, Weltklimakonferenz, Euro-Krise, zeitweiliges Grexit-Szenario, AfD, Pegida, Mindestlohn, Rente mit 63, Kampf gegen Kinderarmut, noch einiges mehr. Aber jetzt nimmt Gabriel, den die Delegierten in Dresden 2009 nach einer krachenden Wahlniederlage mit 94,2 Prozent erstmals zum SPD-Vorsitzenden gewählt haben, das Kanzleramt ins Visier.

Am Ende werde man auf eine der vermutlich "sozialdemokratischsten Legislaturperioden seit langer Zeit" zurückblicken. Aber jetzt wird Gabriel persönlich, der SPD-Chef ganz nah. Das kommt immer gut an - gerade vor der Basis. Seine Tochter Marie, dreieinhalb Jahre, kommt ins Spiel. Marie habe ihn kürzlich gefragt, als er ihr zu Hause wieder beibringen musste, dass er am nächsten Tag nach Berlin müsse: "Wie lange musst Du noch zu Angela Merkel fahren?" Gabriels Antwort an den Parteitag: "Keine Angst, nur noch bis 2017."

Das hören die 600 Delegierten gerne. Applaus im Saal. Sie würden es so gerne glauben, sie würden es noch lieber erleben. Einzug des vierten Sozialdemokraten nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder ins Kanzleramt, als Kanzler wohlgemerkt, nicht als häufiger Besucher in der ungeliebten Funktion als Juniorpartner von Merkel.

Von Umfragen solle man sich bloß "nicht kirre machen" lassen, hat Gabriel versucht, seine Genossen ob der Umfragewerte um die 25 Prozent zu beruhigen. Besser sei, wenn die Partei "nicht jeden Tag auf die Umfrage blickt, sondern auf die Überzeugungen". Das hören die Gesandten der Programmpartei SPD gerne.

Was Gabriel will? "Wir wollen Deutschland wieder regieren und nicht nur mitregieren. Natürlich vom Kanzleramt aus. Was denn sonst?" Gabriel hat am Ende des zweiten Jahres dieser dritten großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik längst erkannt, dass die Kanzlerkandidatur an ihm nicht mehr vorbeigehen wird, dass sich aktuell vermutlich auch kein Zweiter in der SPD mehr finden ließe, der gegen Merkel in eine nächste Wahlauseinandersetzung gehen wollte, wobei sich auch Merkel - ganz offiziell - noch nicht zu einer erneuten Kanzlerkandidatur erklärt hat. Mal sehen. Aber Gabriel hat schon vor einigen Wochen im "Stern" gesagt, dass er 2017 bereitstünde für den Kampf ums Kanzleramt. Mit einem entscheidenden Nebensatz: "Natürlich will ich Bundeskanzler werden, wenn die SPD mich aufstellen will. Das ist doch gar keine Frage."

Dabei ist es an manchen Tagen gar nicht einfach, SPD-Vorsitzender zu bleiben. Erst technisch, dann arithmetisch. Gabriel spricht über die Chancen der Digitalisierung und davon, dass dieses "neue Maschinenzeitalter" erst am Anfang stehe. Der SPD-Parteitag liefert den Beweis. Das neue, digitale Abstimmungsverfahren funktioniert nicht. Gabriels Wahl muss deswegen wiederholt werden. Ganz konventionell mit der Abgabe von Wahlzetteln auf Papier.

Dass die SPD ihrem Vorsitzenden vertraut, seine Arbeit schätzt, die maßgeblich auch durch ihn erreichten Ergebnisse in der Koalition mit CDU und CSU würdigt, hatten viele Delegierte vorher erwartet. Doch dann: 74,3 Prozent für jenen Vorsitzenden, der Mindestlohn oder Rente mit 63 in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU durchgesetzt hatte. Der Niedersachse aus Goslar hat den Parteitag nochmals daran erinnert, wo Bundestagswahlen entschieden werden: in der gesellschaftlichen Mitte. Sein Befund: "Meiner Auffassung nach ist die Mitte niemals ein fester Ort. Sie ist umkämpft, sie ist in Bewegung. (...)" Vor allem: "Das Zentrum der Arbeitsgesellschaft, das ist die Mitte, an die sich die SPD wenden muss."

Gabriel weiß, was die Partei hören will. Und er weiß, dass er aktuell in der besonderen Konstellation der großen Koalition CDU-Chefin Merkel nur bedingt angreifen kann. Aber eine Sache muss noch mal gesagt sein: Er habe Merkel immer gewarnt, Frankreich ihren Sparkurs aufzuzwingen, was letztlich mit zum Wahlerfolg des rechtsextremen Front National geführt habe. Schöner ist, jetzt, da die Unionsparteien über Flüchtlingsobergrenzen streiten: "Wir Sozialdemokraten sind der stabile Faktor dieser Bundesregierung." Applaus im Saal. SPD-Chef sei das schönste Amt neben Papst, hat Ex-Parteichef Franz Müntefering einmal gesagt. Gabriel formuliert es anders und bekommt dabei feuchte Augen: "Das ist das stolzeste und ehrenvollste Amt, das man in der demokratischen Politik haben kann." Er hat nach diesem Tag viel Grund, noch einmal darüber nachzudenken.

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