Diskussion in der Flüchtlingspolitik Die späte Einsicht von CDU und CSU

Berlin · CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer machen nach zwei Jahren Streit ihren Frieden und suchen nun nach einer Formel für eine Koalition mit FDP und den Grünen.

 Angela Merkel (CDU), Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende, sowie der CSU-Vorsitzende, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. Die Unionsparteien haben sich auf einen Kompromiss im Flüchtlingsstreit geeinigt.

Angela Merkel (CDU), Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende, sowie der CSU-Vorsitzende, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. Die Unionsparteien haben sich auf einen Kompromiss im Flüchtlingsstreit geeinigt.

Foto: picture alliance / Michael Kappe

Ach, die Physik. Oder Mathematik. Oder Chemie. Manchmal fällt der Groschen spät. Manchmal erst nach zwei Jahren. Wie in diesem Fall bei CDU und CSU. Ein schwerer Fall. Ein Fall für einen am Ende „klassischen Kompromiss“, wie CDU-Chefin Angela Merkel noch versichert. Horst Seehofer ist dazu sinnbildlich kurz zurück auf der Schulbank. Ob Mathematik, Chemie oder Physik, „das wissen Sie doch auch“, manchmal dauere es einfach. Und dann? „Dann klickt’s eben.“ Klick, klick, fertig ist der Kompromiss.

Wenn es nur so einfach wäre. Wenn es doch Naturwissenschaft gewesen wäre, dann hätte Doktor Merkel, die promovierte Physikerin, helfen können. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Oder auf der Suche nach der geeigneten Formel, den Flüchtlingszuzug zu begrenzen. Aber in diesem Fall zerrten Merkel und Seehofer, mehr Seehofer an Merkel, fast zwei Jahre lang aneinander. Flüchtlingsobergrenze, Ja oder Nein? „Es ist so im Leben, auch im Privatleben“, sinniert Seehofer, manchmal frage man sich: „Warum ist Dir das nicht vor einem Jahr eingefallen?“

Dann wäre Merkel und Seehofer, wie der gesamten CDU und der CSU, einiges an Ärger, Zank, auch Verdruss über den jeweils anderen erspart geblieben. Merkel sagt an diesem Montagmittag: „Alles hat seine Zeit. Und gestern war diese Zeit.“ Seehofer sekundiert: „Alles hat seine Zeit.“ Ein Kompromiss so schön, dass sich Seehofer nach 22 Uhr sogar ein Glas Rotwein gegönnt habe – nach längerer Zeit mal wieder, wie er beteuert.

Das "Regelwerk zur Migration"

Mit diesem Kompromiss im Streit über ein „Regelwerk zur Migration“ haben Merkel und Seehofer nun einen Weg gefunden, bei dem der eine (Seehofer), wenn auch nur als Zielgröße oder Richtwert, eine Zahl von 200.000 Flüchtlingen festgeschrieben bekomme, die eine nächste Bundesregierung maximal ins Land lassen würde. Und die andere (Merkel) wiederum lässt damit nicht am Grundrecht auf Asyl rütteln, weil ein Grundrecht grundsätzlich keine Obergrenze haben könne, wie Merkel immer wieder betont hat.

Jetzt aber, unter dem Zwang eines ziemlich miesen Wahlergebnisses und unter dem Druck, irgendwie eine Koalition mit der irgendwie vertrauten FDP und den irgendwie fremden Grünen zustande zu bringen, haben CDU und CSU erst einmal unter sich sondiert – erfolgreich. Ein simpler Satz: „Wir wollen erreichen, dass die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt.“

Mit Ausnahme der Fachkräfte-Zuwanderung und der in der EU garantierten Arbeitnehmer-Freizügigkeit soll dieser Richtwert aus Sicht von CDU und CSU dann für alle anderen, die nach Deutschland wollen, gelten: Flüchtlinge und Asylbewerber, Menschen mit eingeschränktem Flüchtlingsschutz, Familiennachzügler, abzüglich von Rückführungen und freiwilligen Ausreisen. Seehofer sagt: „Ich bin sehr erfreut und zufrieden.“ Merkel sagt: „Ich freu mich über den gefundenen Kompromiss. Wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht.“

Noch nicht die Position der künftigen Regierung

Bis auf weiteres ist dies allerdings nur eine Verabredung der Union. Für die FDP ist der Kompromiss nach Worten ihrer Generalsekretärin Nicola Beer ein „erster Schritt“. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nennt die Vereinbarung von CDU und CSU einen „Formelkompromiss“. Parteichef Cem Özdemir betont: „Das ist jetzt die Position von CDU/CSU, aber es ist nicht die Position der künftigen Regierung.“

Jetzt müssen Partner in spe erst einmal in Sondierungsgespräche. Seehofer erklärt den Sinn von Sondierungsgesprächen so. Man wolle herausfinden: „Was ist verhandelbar? Was ist absolut unverhandelbar?“ Merkel will dann „die Positionen bewerten, die uns entgegenkommen“. Schließlich könne die Union nicht die Augen davor verschließen, dass FDP und Grüne „unterschiedliche Parteien“ seien.

Merkel und Seehofer müssen nun wieder eine Formel finden, womit sie wieder beim Fach Chemie oder Physik wären. Dieses Mal geht es um das noch unbekannte Substrat einer Jamaika-Koalition.

Merkel-Seehofer-Frieden

Merkel weiß das, Seehofer weiß das, Özdemir weiß das. Göring-Eckardt weiß das. Christian Lindner weiß das. Alle wissen es. Und doch müssen sie ihren Jamaika-Kompromiss erst noch finden. Jetzt, da die Unionsparteien ihren Merkel-Seehofer-Frieden gemacht haben, sagt der CSU-Chef auf die Frage, ob sie wieder zueinander gefunden hätten, die beiden Schwesterparteien: „Ob wir ein geschwisterliches Verhältnis haben? Das möchte ich jetzt ausdrücklich bejahen. Mein Gott,...“ Merkel und Seehofer sind gemeinsam, getrennt, wieder halb gemeinsam durch die harten Zeiten gegangen.

Im Moment sind sie wieder ganz gemeinsam, diesen Eindruck jedenfalls wollen sie bei ihrem Auftritt am Mittag nach dem gefundenen „Regelwerk zur Migration“ vermitteln. Es geht doch. Wir wollen doch. Am kommenden Montag beraten Merkel und Seehofer noch einmal gemeinsam im Unionslager. Am 18. Oktober führen sie dann getrennte Gespräche – mit FDP und mit den Grünen. Zwei Tage später wird erstmals sondiert: Gesucht: die Zauberformel für Jamaika.

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