Anatomie eines Staatsversagens Drei Jahre nach Anschlag am Berliner Breitscheidplatz

Berlin · Bereits die ersten Minuten nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt machen klar, was alles im Hintergrund der Sicherheitsbehörden schief gelaufen ist. Auch drei Jahre später sind noch immer viele Fragen offen.

Rosen und Kerzen am Anschlagsort: Pannen, Widersprüche, Fehleinschätzungen und ungeklärte Verantwortlichkeiten.

Rosen und Kerzen am Anschlagsort: Pannen, Widersprüche, Fehleinschätzungen und ungeklärte Verantwortlichkeiten.

Foto: dpa/Christoph Soeder

An diesem Donnerstag vor drei Jahren, um 20:02 Uhr, steuert der Tunesier Anis Amri einen entführten Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Zwölf Menschen sterben, 55 werden verletzt. Bereits die ersten Minuten danach machen klar, was alles im Hintergrund der Sicherheitsbehörden schief gelaufen ist. Und sie stellen nach drei Jahren intensiver und intensiv hintertriebener Aufklärung nur die Spitze eines Eisberges von Staatsversagen dar.

Amri entkommt zunächst unerkannt. Dass er der Täter gewesen ist, erfahren die Behörden offiziell erst 19 Stunden später, als sie am nächsten Nachmittag gegen 15.30 Uhr erstmals die Fahrerkabine durchsuchen und sein Portemonnaie finden. Aber: In NRW hoffen schon am Abend des Attentats Ermittler: „Hoffentlich war es nicht Amri.“ Und: Pegida-Gründer Lutz Bachmann twittert bereits 134 Minuten nach dem Anschlag: „Interne Info aus Berliner Polizeiführung Täter tunesischer Moslem“. Das Bundeskriminalamt und das Berliner Landeskriminalamt schreiben Amri am 20. Dezember um 7 Uhr bereits zur Fahndung aus.

Viele Merkwürdigkeiten

Diese drei Umstände entwickeln sich auseinander: Die NRW-Beamten sollten recht behalten mit ihren Vorahnungen, die sich auf ihre vielen Warnungen vor der Gefährlichkeit Amris beziehen. Bachmann behauptet, er habe keinen Informanten bei der Polizei gehabt, sondern nur spekuliert, und das BKA redet sich darauf hinaus, die Fahndung nach Amri sei Zufall gewesen. Es handelt sich jedenfalls um die ersten Merkwürdigkeiten, dem weitere noch folgen sollten.

Da sind die Auffälligkeiten in der Fahrerkabine, in der sich die Leiche des erschossenen polnischen Lkw-Fahrers findet. Warum es außer auf der Geldbörse von Amri keine DNA-Spuren und keine Fingerabdrücke gibt, wissen die Behörden nicht. Sie wissen nicht, woher Amri die Waffe bekam, mit der Lukasc Urban erschossen wurde. Und sie wissen auch nicht, mit wem sich Amri kurz vor der Tat in der Fussilet-Moschee getroffen hat. Und doch stellt der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gleich zu Beginn drei Grundannahmen auf: Erstens war Amri ein Einzeltäter, der sich im Verborgenen selbst radikalisierte. Zweitens waren die Nachrichtendienste nicht involviert. Und nach der dritten blieb es eine Angelegenheit nur der NRW- und der Berliner Polizei. Der Bundesbehörden schienen raus zu sein.

Diese drei Thesen haben sich als haltlos erwiesen. Das BKA hat sich zwar geweigert, den zwischen den Bundesländern hin und her reisenden Amri als eigenen Fall zu übernehmen. Und doch war es immer wieder mit Amri befasst. Auch BND und Verfassungsschutz hatten detaillierte Feststellungen, waren sogar von ausländischen Geheimdiensten auf die Gefährlichkeit Amris hingewiesen worden und hatten diese verifiziert.

Die Theorie mit dem Einzeltäter ist angesichts der Fülle von Kontakten Amris bis hinein in die Kommandoebene des Terrornetzwerkes IS ebenfalls längst widerlegt. Es gibt inzwischen den Wortlaut von Telefonaten vor der Tat, bei denen sich Amri bei seinen Kontakten sogar noch aus dem Lkw meldet. Es gibt die Erkenntnisse, dass er mit zwei weiteren Personen schon dabei war, Sprengstoff für einen Anschlag auf das Berliner Gesundbrunnenzentrum herzustellen. Und es gibt die belegten Verbindungen Amris etwa mit Abu Walaa, dem einflussreichen Chef des „Deutschen Islamkreises“, dem gerade der Prozess wegen des Vorwurfs der IS-Rekrutierung gemacht wird.

Umso auffälliger ist, dass der engste Bekannte Amris, der zu möglichen Mitwissern und potenziellen Mittätern eine wichtige Quelle gewesen wäre, nach dem Attentat zügig abgeschoben wurde. Genau so auffällig ist, dass sich die Regierung weigert, den Führer der Vertrauensperson, die Amris Wirken in der Fussilet-Moschee beobachtete, vom Untersuchungsausschuss befragen zu lassen. Die Abgeordneten schalteten dazu inzwischen sogar das Bundesverfassungsgericht ein.

Überraschungen im Ausschuss

Die Erfahrungen anderer Untersuchungsausschüsse, in denen der grundsätzliche Sachverhalt schnell klar ist und nur noch die einzelnen Verantwortlichkeiten geklärt werden müssen, gilt für den Amri-Ausschuss nur unter Vorbehalt. Immer wieder kann es hier passieren, dass mit der nächsten Akte, mit dem nächsten Zeugen, völlig neue Erkenntnisse entstehen. So etwa neu auftauchende Videos vom Tatort. Oder die Behauptung eines NRW-Polizisten, wonach das BKA zusammen mit „höchsten Kreisen“ versucht haben soll, die wichtigste Kontaktperson der NRW-Behörden zu Amri vor dem Attentat abzuschalten, weil sie „zu viel Arbeit“ mache.

Vollmundig dementierten Innenministerium und BKA ein entsprechendes Vier-Augen-Gespräch. Inzwischen ist der NRW-Beamte für die Opposition im Untersuchungsausschuss aufgrund weiterer Zeugenaussagen glaubwürdig, und auch das BKA schließt nicht mehr aus, dass es ein solches Gespräch gegeben haben könnte.

Auch drei Jahre nach dem Anschlag hat sich an der grundsätzlichen Aufstellung der Behörden kaum etwas geändert hat. Immer noch tauschen sich 40 Sicherheitsbehörden im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) über Gefährder aus. Und immer noch gibt es keinen, der den Hut auf hat und festlegt, was daraus zu folgen hat. FDP und Grüne wollen daher die Zuständigkeiten neu regeln und planen ein GTAZ-Gesetz.

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