Interview mit Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein warnt vor ritualisierter Erinnerungskultur in Deutschland

Exklusiv | Berlin · Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung spricht im GA-Interview über Hass gegen Juden, Erinnerungskultur – und was jeder Einzelne tun kann. Denn für die Opfer sei das Schweigen und das Wegschauen der anderen genauso schlimm wie der Angriff selbst.

 Protest gegen Antisemitismus: Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Berlin trägt Kippa“ der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im April 2018.

Protest gegen Antisemitismus: Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Berlin trägt Kippa“ der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im April 2018.

Foto: picture alliance / Michael Kappe/Michael Kappeler

Die Juden und die Pest, das ist ein uraltes antisemitisches Thema: Welche Rolle spielen solche Verschwörungstheorien rund um die Corona-Krise?

Felix Klein: In Krisenzeiten sind Menschen immer besonders anfällig für Irrationalität. Es ist erschreckend, aber nicht verwunderlich, dass in der jetzigen Corona-Krise auf der Suche nach angeblich Schuldigen wieder alte antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet werden, wie wir sie aus den Zeiten der Pestepidemien kennen.

Was beobachten Sie da genau?

Klein: In den sozialen Medien werden derzeit völlig absurde Behauptungen in Umlauf gebracht. Die Rede ist etwa von jüdischen Gewinnen aus einem möglichen Impfstoff, von Israel entwickelten Biowaffen oder dem jüdischen Versuch, den Anteil von Muslimen an der Weltbevölkerung zu reduzieren.

Wie gehen Sie dagegen vor?

Klein: Wir müssen diese Falschmeldungen durch Gegenrede mit faktenbasierter Aufklärung entlarven. Die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus rufe ich jede und jeden einzelnen auf, derartige Inhalte den Betreibern der Plattformen zu melden sowie Anzeige zu erstatten. Sobald das geplante Gesetz gegen Hass und Hetze im Internet in Kraft tritt, haben wir verbesserte Möglichkeiten, strafrechtlich dagegen vorzugehen.

 Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.

Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.

Foto: picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm

Antisemitismus ist nicht zuletzt nach dem Anschlag in Halle wieder im Fokus. Sind all die Bemühungen der zurückliegenden Jahrzehnte eigentlich gescheitert?

Felix Klein: Ich glaube, wir haben in Deutschland zu lange gedacht, dass wir immun sind gegen solche Entwicklungen. Unsere Erinnerungskultur ist im internationalen Vergleich gewiss etwas Besonderes. Dennoch sehen wir gerade in der jüngeren Vergangenheit verstärkt, dass es eben nicht reicht. Wir können uns nicht ausruhen. Es bleibt eine fortwährende und immer wieder neue Aufgabe, an der Bekämpfung des Antisemitismus zu arbeiten. Insofern ist die Einrichtung meines Amtes 2018 schon ein Paradigmenwechsel. Es ist ein ehrliches Zeichen der Politik, dass es trotz aller Maßnahmen, die wir ergriffen haben, letztlich doch nicht genügte. Wir müssen unsere Ansätze überprüfen. Wir brauchen eine neue Gesamtstrategie gegen Antisemitismus. Daran arbeite ich jetzt.

Die Rückkehr des offenen Antisemitismus, von der Sie sprechen, wie ist es dazu gekommen?

Klein: Antisemitismus war nie wirklich verschwunden, nur verdeckt. Dass antisemitische Haltungen nun wieder offen geäußert werden, war ein schleichender Prozess. Es gibt zwei markante Ereignisse, die dies verdeutlichen. Da war zunächst die Beschneidungs-Debatte im Jahr 2012. Da hat man in Leserbriefen und Diskussionsbeiträgen im Internet gesehen, wie stark der Antisemitismus noch vorhanden ist. Es äußerten sich plötzlich Menschen, die offenbar schon immer antisemitisch dachten, sich aber bis dahin nicht getraut haben, das auch öffentlich zu zeigen. 2014 begann die Israel-Gaza-Operation. Da kamen die Angriffe von islamistischer Seite. Es wurde „Juden ins Gas“ in Deutschland auf der Straße gerufen, oft ohne dass die Polizei eingeschritten ist. Das sind die Hauptereignisse, die sich auch gegenseitig verstärkten. Die Grenzen des Sagbaren haben sich insgesamt verschoben.

Welche Rolle spielt dabei die AfD, aus deren Reihen ja immer wieder antisemitische Töne kommen und die jetzt vom Verfassungsschutz stärker in den Blick genommen wird?

Klein: Die Angriffe führender Politiker der AfD auf die Erinnerungskultur haben sicherlich Antisemitismus ausgelöst. Dazu gehört die Relativierung des Holocaust und der NS-Herrschaft. Hinzu kommt, dass die AfD sehr problematische Positionen gegenüber dem jüdischen Leben vertritt. Das gilt zum Beispiel für das rituelle Schächten. Das will die AfD verbieten. Orthodoxen Juden würde es dadurch aber unmöglich werden, in Deutschland Fleisch zu essen.

Wir haben den Anschlag von Halle und den Anschlag in Hanau, bei dem es auch um eine Minderheit und um Rassismus ging. Reicht es denn, allein vom Antisemitismus zu sprechen?

Klein: Ich sehe, dass Abwertung von Minderheiten oder ganz allgemein von Erscheinungen, die vom vermeintlichen Mainstream abweichen, in Teilen der Gesellschaft zunehmend auf Sympathie trifft. Man muss Antisemitismus paradigmatisch verstehen. Wenn wir Erfolge erzielen im Kampf gegen den Antisemitismus, erzielen wir auch Erfolge bei der Bekämpfung anderer Formen der Diskriminierung. Denn wer Antisemit ist, hasst in der Regel auch Muslime, Frauen oder Homosexuelle – so wie der Attentäter von Halle. Ein Beispiel dafür ist ein neuer Straftatbestand, der das demonstrative Zerstören einer Fahne unter Strafe stellt. Ausgangspunkt war das Verbrennen einer Israel-Fahne am Brandenburger Tor. Das konnte nicht bestraft werden, was auf Unmut stieß. Jetzt werden alle ausländischen Fahnen geschützt. Hier wird deutlich, dass Erfolge in der Bekämpfung von Antisemitismus weit über diesen hinausreichen.

Nach Anschlägen haben wir immer Warnungen, Mahnungen, Appelle, die man schon lange kennt. Reichen die oder muss nicht endlich Konkreteres geschehen?

Klein: Es reicht sicher nicht. Wir müssen das Strafrecht weiter anpassen und schärfen; Dinge regeln, die früher nicht nötig waren, weil es einen gesellschaftlichen Konsens gab, dass man so etwas nicht tut. Bei der Bekämpfung von Hass und Hetze im Internet sind wir auf einem guten Wege. Die Betreiber von Plattformen werden verpflichtet, die Adressen von Nutzern zu melden, die so etwas verbreiten. Wir müssen letztlich dahin kommen, dass hier die gleichen Regeln gelten wie für Zeitungen auch. Die sind verantwortlich für das, was erscheint, und so muss es im Internet auch werden.

Und jenseits der Verfolgung – was ist Ihnen besonders wichtig?

Klein: Der zweite wichtige Punkt ist die Erinnerungskultur. Sie darf nicht in Ritualen erstarren, bei denen die Honoratioren einer Stadt zusammenkommen, ein Kranz wird abgelegt und es gibt Reden. Viele Menschen haben das Gefühl, das gehe sie gar nichts an. Wir müssen Empathie vermitteln, das Gefühl ansprechen. Wir müssen außerdem jüngere Menschen adressieren – völlig unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht – und ihnen deutlich machen, dass es egal ist, wo ihre Großeltern herkamen. Es gehört zum Rüstzeug des Erwachsenwerdens in unserem Land dazu, die Geschichte Deutschlands zu verstehen. Dazu gehört die Selbstverständlichkeit, die Tatsache des jüdischen Lebens in Deutschland zu akzeptieren. Das ist ein Gradmesser für das Gelingen von Integration. Das müssen wir stärker einfordern.

Welche Rolle spielt Schule, spielt Bildung dabei insgesamt?

Klein: Wir müssen davon wegkommen, beim Thema Drittes Reich allein über die Verfolgung der Juden zu sprechen. Dadurch werden Juden immer nur als Opfer wahrgenommen, die keine Handlungsoption hatten. Jüdisches Leben ist aber seit Jahrhunderten in Deutschland präsent und hat mit Künstlern, Unternehmern, Wissenschaftlern zur Stärke unseres Landes beigetragen. Daran müssen wir erinnern. Auch jüdisches Leben heute ist wichtig. Es wird ja gerne so getan, als hätte das 1945 einfach aufgehört. Darüber gilt es besser aufzuklären. Auch über die Geschichte des Staates Israel wird zu wenig vermittelt. Der israelbezogene Antisemitismus ist ein großes Problem. Ich bin sehr froh, dass wir es heute mit jüdischen Gemeinden zu tun haben, die sehr viel mehr als früher bereit sind, sich zu öffnen, um zu dieser Aufklärung beizutragen. Im nächsten Jahr ist dazu besondere Gelegenheit, weil wir dann 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland begehen werden. Das bezieht sich übrigens auf die erste Erwähnung einer jüdischen Gemeinde im damals römischen Köln im Jahr 321.

Was kann der Antisemitismusbeauftragte konkret bewirken?

Klein: Ich treibe das Thema voran. Bei Gesetzgebungsverfahren zum Beispiel. Die Verschärfung des Paragrafen 46 im Strafgesetzbuch geht auf meine Initiative zurück. Da werden antisemitische Motive als Grund benannt, eine Strafe härter ausfallen zu lassen. Mein Mandat ist es, solche Anstöße zu geben. Hinzu kommt die Aufgabe, Menschen zu vernetzen und eine zusammenhängende Gesamtstrategie zu erarbeiten. Dafür kann ich auf die Zuarbeit aller Bundesministerien zählen. Die Gründung der Bund-Länder-Kommission zum Antisemitismus – die meisten Kompetenzen in diesem Feld liegen bei den Ländern – habe ich mir zur Aufgabe gemacht. Inzwischen haben wir in 15 der 16 Länder einen Antisemitismusbeauftragten.

Viele fragen sich, was sie selbst tun können, um dem wachsenden Antisemitismus zu begegnen. Was raten Sie? Was wünschen sich die Betroffenen?

Klein: Wenn jemand antisemitische, judenfeindliche Sprüche macht oder Verschwörungstheorien verbreitet, dann sollte jeder sich aufgerufen fühlen, das nicht hinzunehmen. Manchmal muss man auch den Mut haben, die Harmonie einer Feier zu stören und offen widersprechen. Campino zum Beispiel hat das großartig gemacht bei der Echo-Preisverleihung. Das andere ist, Interesse zu zeigen für das jüdische Leben. Man kann in die Synagoge gehen, Konzerte besuchen, Anteil nehmen am jüdischen Leben und damit die Vielfalt hier in Deutschland wahrnehmen. Bei einem Angriff muss man natürlich in jedem Fall etwas tun. Betroffene sagen, das Schweigen und Wegschauen der anderen sei genauso schlimm wie der Angriff selbst.

Es gibt Unsicherheit, was Antisemitismus eigentlich ist. Es gibt viele Strömungen von Boykottbewegungen bis zu Holocaustleugnern. Wie kann sich jeder orientieren?

Klein: Es muss absolut klar sein, dass auch Deutsche Handlungen der israelischen Regierung kritisieren dürfen. Es gibt eine Definition, die besagt, dass es immer dann um Antisemitismus geht, wenn Juden als ein Kollektiv verstanden werden, weil sie Juden sind und dann negative Eigenschaften zugeschrieben bekommen. Beispiel: Man kann deutsche Staatsbürger, die zugleich Juden sind und hier leben, nicht für die Handlungen des Staates Israel verantwortlich machen. Diese Gleichsetzung ist falsch.

Wenn Betroffene zur Polizei gehen, um Antisemitismus anzuzeigen, klagen sie oft darüber, nicht ausreichend mit ihren Anliegen durchzudringen. Wie beobachten sie das?

Klein: Es hat in den letzten Monaten skandalöse Entscheidungen und Fehlurteile der Justiz im Umgang mit Antisemitismus gegeben. In Berlin ist ein Täter mit einem großen Messer auf die Synagoge an der Oranienburger Straße zugelaufen und hat die Polizisten dort bedroht. Er hat dabei Israel wüst beschimpft. Das war klar antisemitisch – und einen Tag später war er schon wieder auf freiem Fuß. Das kann nicht sein. In NRW gab es im Europawahlkampf Plakate der Partei Die Rechte, auf denen stand, „Israel ist unser Unglück – Zionismus stoppen“. Das Verfahren wurde mit Verweis auf die Meinungsfreiheit eingestellt. So etwas liegt an mangelnder Sensibilisierung der betreffenden Richter und Staatsanwälte. Bayern hat jetzt entschieden, dass alle Anzeigen wegen Antisemitismus verfolgt werden müssen. In NRW ist es gut, dass in den Generalstaatsanwaltschaften Antisemitismusbeauftragte ernannt worden sind. Damit bekommen wir ein Kompetenzzentrum.

Sie haben noch viel zu tun.

Klein: Eigentlich arbeite ich daran, mich überflüssig zu machen.

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