Corona-Hotspots in Deutschland Gangelt, der Ursprungsort der Pandemie in Deutschland

Gangelt · Der erste offizielle Covid-19-Patient in Nordrhein-Westfalen kam aus Gangelt. Der Bürgermeister der Gemeinde im Kreis Heinsberg weiß, wie sich die Menschen im Kreis Gütersloh jetzt fühlen.

  Das Ortsschild der Stadt Gangelt im Kreis Heinsberg steht an der Ortseinfahrt. In der besonders vom Coronavirus betroffenen Gemeinde Gangelt in Nordrhein-Westfalen ist in einer Studie bei 15 Prozent der untersuchten Bürger eine Infektion nachgewiesen worden. Das berichtete der Leiter der Feldstudie im Kreis Heinsberg, Streeck, am Donnerstag in Düsseldorf.

Das Ortsschild der Stadt Gangelt im Kreis Heinsberg steht an der Ortseinfahrt. In der besonders vom Coronavirus betroffenen Gemeinde Gangelt in Nordrhein-Westfalen ist in einer Studie bei 15 Prozent der untersuchten Bürger eine Infektion nachgewiesen worden. Das berichtete der Leiter der Feldstudie im Kreis Heinsberg, Streeck, am Donnerstag in Düsseldorf.

Foto: dpa/Roberto Pfeil

Bernhard Tholen, seit 23 Jahren hauptamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Gangelt, sitzt am Abend vor Aschermittwoch zu Hause in seinem Büro und sortiert Briefmarken. Um 22.30 Uhr erhält der 62-Jährige eine Whatsapp, die sein Leben und das so vieler anderer verändern wird. Ein Mitarbeiter des Kreises Heinsberg, dem Gangelt angehört, schreibt ihm, dass es den ersten Corona-Fall in ihrem Kreis gibt. Und die Person kommt aus Gangelt. „Wie und wo hat sich die Person das nur geholt?“, ist Tholens erster Gedanke.

Die Tragweite der Nachricht ist ihm jedoch nicht sofort bewusst. Er geht an dem Abend noch davon aus, dass es ausreicht, den Betroffenen und dessen Familie unter Quarantäne zu stellen. Schockiert ist er zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch nicht. Kurz nachdem er die Whatsapp erhalten hat, ruft ihn sein Ordnungsamtsleiter an. Dieser ist gebeten worden, sofort zum Krisenstab nach Heinsberg zu fahren. Der Krisenstab lässt keine Zeit verstreichen. Noch am späten Abend wird verkündet, dass Schulen und Kindergärten im Kreis aus Sicherheitsgründen ab Mittwoch geschlossen bleiben. Die Nachricht verbreitet sich rasend schnell über die sozialen Netzwerke. Tholens 17-jähriger Sohn kommt wenig später gegen 23 Uhr in sein Arbeitszimmer und sagt: „Papa, ich brauche morgen nicht zur Schule.“

Vier Monate nach dem ersten Corona-Nachweis

Am Mittwochmorgen weiß es dann ganz Deutschland: Aus Gangelt, der 13 000-Einwohner-Gemeinde im westlichen Zipfel des Kreises Heinsberg, stammt der erste bestätigte Coronavirus-Patient in NRW. Ein 47-jähriger Familienvater. Er wird in der Uniklinik Düsseldorf behandelt. Auch bei seiner Frau wird am Aschermittwoch das Virus nachgewiesen. Zuvor ist der Mann wegen einer Vorerkrankung in der Kölner Uniklinik gewesen. Am Rosenmontag hatte das Paar ein Krankenhaus in Erkelenz aufgesucht, am Tag darauf sind sie in die Düsseldorfer Uniklinik verlegt worden.

Fast auf den Tag genau vier Monate später sitzt Tholen in seinem Büro im Gemeindehaus. Noch einen Tag, dann hat er Urlaub. Bis heute erhält er Anfragen von Medienvertretern aus der ganzen Welt. Gerade erst hat er eine Interviewanfrage der „Daily Mail“ aus London bekommen. So geht das seit Aschermittwoch. Ein weiterer Sohn von Tholen, der in den USA studiert, berichtet ihm, dass selbst dort über das kleine Gangelt am Niederrhein berichtet und gesprochen wird.

Bis heute weiß niemand, wie das Virus nach Gangelt kam

Tholen weiß noch gut, wie sich das Verhalten der Menschen in seiner Gemeinde plötzlich schlagartig verändert hat. Die bundesweit ersten Hamsterkäufe haben in Gangelt stattgefunden. Am Aschermittwoch sind schon mittags Nudeln, Klopapier und andere Dinge in den Supermärkten vergriffen. „Die Grundnahrungsmittel und Desinfektionsmittel waren leergekauft“, erinnert sich Tholen. Aber bereits am nächsten Tag normalisiert sich das Kaufverhalten im Ort wieder, obwohl die Lage sich verschärft hat, nachdem herausgekommen ist, dass sich noch mehr Menschen in Gangelt mit dem Coronavirus infiziert haben – darunter auch die Sekretärin des ersten Patienten. Und das offenbar auf einer Karnevalssitzung am 15. Februar im Bürgertreff, einer Veranstaltungshalle im Ortsteil Langbroich.

 Gangelt wurde schnell bundesweit bekannt - in dieser Halle fand die Kappensitzung statt, bei der sich viele Menschen mit dem Coronavirus infizierten.

Gangelt wurde schnell bundesweit bekannt - in dieser Halle fand die Kappensitzung statt, bei der sich viele Menschen mit dem Coronavirus infizierten.

Foto: Christoph Reichwein (crei)

Bis heute weiß niemand, wie das Virus nach Gangelt gekommen ist. Verbreitet worden ist es aber an jenem Abend auf der Kappensitzung. Auch der 47-Jährige hat dort mitgefeiert. Vermutlich hat sich das Virus durch Aerosole im Saal verbreitet. Man schätzt, dass sich die Hälfte der Anwesenden infiziert hat. Aber davon wissen diese an dem Abend nichts.

In den folgenden Tagen besuchen viele weitere Sitzungen in geschlossenen Räumen und feiern Straßenkarneval. Tholen selbst hat in diesem Jahr nicht Karneval gefeiert. Was selten vorkommt. Eine kurzfristige Entzündung ist ihm dazwischengekommen. Andernfalls wäre er auf jeden Fall auf irgendeiner Sitzung in seiner Gemeinde gewesen. Alle Personen, die auf der Kappensitzung gewesen sind, und noch viele mehr werden aufgefordert, von nun an erst einmal zu Hause zu bleiben. 1000 Menschen stehen in Gangelt plötzlich unter Quarantäne.

Auf die Corona-Hotspots blickt ganz Deutschland

Was Gangelt bis vor Kurzem gewesen ist, das sind jetzt die Kreise Gütersloh und Warendorf: Corona-Hotspots, auf die ganz Deutschland blickt. Nach dem Ausbruch im SchlachtbetriebTönnies fühlen sich viele Menschen in Ostwestfalen diskriminiert. Tholen weiß, wie ihnen zumute ist. „Ich fühle mit ihnen, denn ich weiß, was sie durchmachen müssen“, sagt er.

In Gangelt fängt es damit an, dass plötzlich die Handwerker nicht mehr zur Gesamt­schule kommen, um die Sanierungsarbeiten an den Gebäuden fortzusetzen. „Ihr Chef wollte sie nicht der Gefahr aussetzen, dort zu arbeiten“, sagt Tholen. Menschen aus seinem Dorf, die mit dem Auto in Städte außerhalb des Kreises Heinsberg fahren, werden gelegentlich angefeindet. „An dem Autokennzeichen HS erkennt man ja, dass man aus der Gegend kommt. Da gab es schon eine Reihe unschöner Vorfälle“, sagt Tholen. Das kann Alexandra Schlüter bestätigen. Die 30-jährige gebürtige Düsseldorferin wohnt seit ein paar Jahren in Gangelt. Als sie während der Krise Freunde in ihrer Heimatstadt besucht, wird sie beim Einparken von Fremden beschimpft. „Seuchentrulla haben sie mich genannt“, sagt sie.

Grundsätzlich überwiegen aber Mut machende Nachrichten. „Ich habe aus ganz Deutschland Mails bekommen von Menschen, die uns Kraft gewünscht haben, das durchzustehen. Ihr schafft das, war die Botschaft“, sagt Tholen. „Ich habe nicht eine einzige Hassmail in der Zeit bekommen“, betont er.

Die Bürger in Gangelt bleiben trotz der Pandemie gelassen, niemand verfällt in Panik. Sie helfen sich gegenseitig. Die meisten haben Verwandte im Dorf. Wer nicht einkaufen darf, für den wird eingekauft. Die Supermärkte bieten Lieferservice an. „Jeder kennt jeden. Jeder springt für den anderen ein“, sagt Tholen. Er selbst telefoniert regelmäßig mit dem Bruder des 47-Jährigen, schreibt ihm Whatsapps. Bis heute ist der 47-Jährige nicht wieder vollständig genesen.

Einige Gangelter, die an Covid-19 erkrankt sind, sind ins künstliche Koma versetzt worden. Aber manche hätten heute an Spätfolgen zu leiden, berichtet Tholen. „Eine Person hat im Koma einen Herzinfarkt bekommen und liegt immer noch im Krankenhaus. Wenn die Person wieder rauskommen sollte, wird sie vielleicht ein Pflegefall sein“, sagt der Bürgermeister. Ähnlich schlecht sei es einem Freund von ihm ergangen, der ebenfalls ins künstliche Koma versetzt worden ist. „Der muss gerade eine Reha machen. Er wiegt noch weniger als die Hälfte von früher“, sagt Tholen. Schlimm sei das.

Immer noch sterben Menschen an Covid-19

Seit dem 25. Februar gibt es in Gangelt (Stand 26. Juni, 9 Uhr) 485 bestätigte Coronafälle, zwölf Menschen sind gestorben. Im gesamten Kreis gibt es nirgends mehr Fälle. Auch wenn die Infektionszahlen deutlich zurückgegangen sind und sich das Leben in Gangelt wieder weitestgehend normalisiert hat, weiß Tholen, dass die Ruhe trügerisch sein kann. „Die Gefahr ist noch heute da“, sagt er. Immer noch sterben Menschen an dem Virus. Erst vor wenigen Tagen ist ein sachkundiger Bürger gestorben, der sich zu Beginn der Pandemie infiziert und lange im Krankenhaus gelegen hatte. „Für jeden, der daran stirbt, tut es mir sehr leid“, sagt Tholen.

Aber natürlich ist der Bürgermeister erleichtert, dass das Schlimmste erst einmal überstanden zu sein scheint. In wenigen Wochen endet seine Amtszeit; er tritt nicht noch einmal an. Dann wird er endlich mehr Zeit für seine Briefmarkensammlung haben.

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