Schulen und Kultusministerien improvisieren Große Defizite beim digitalen Unterricht in Deutschland
Berlin · In der Corona-Krise wird der Rückstand Deutschlands beim digitalen Lernen deutlich. Viele Plattformen gelten als nicht praxistauglich. Funktionierende Angebote verstoßen teils gegen den Datenschutz. Eine Analyse.
Trotz erster Lockerungsübungen der Schulen verlangt die Corona-Krise derzeit Schülerinnen und Schülern, dem Lehrpersonal und Eltern alles ab. Der Unterricht findet nicht regelmäßig statt, der Austausch in Videokonferenzen funktioniert nicht immer. Aufgaben kommen per E-Mail ins Postfach, sollen ausgedruckt, bearbeitet, kontrolliert und binnen einer Frist zurückgeschickt werden. Videokonferenzen laufen über Zoom, Skype und andere populäre Anbieter, weil es an einheitlichen, offiziell zugelassenen Programmen mangelt.
Deutschlands Bildungssystem war nicht auf die Folgen der Pandemie vorbereitet. Jetzt improvisieren die Kultusministerien und Schulen gleichermaßen – und das ausgerechnet in einem der sensibelsten Bereiche des Lebens, wo Minderjährige auf diversen Plattformen ihre digitale Identität hinterlassen müssen, um zu ihrem Recht auf Bildung zu kommen. Unterricht im Neuland. Dabei konnte von Neuland schon 2013, als die Kanzlerin das Wort nutzte und sich damit als wenig internetaffin outete, nicht mehr die Rede sein. Spätestens seit dem Jahrtausendwechsel diskutieren Politik, Lehrer- und Wissenschaft über digitales Lernen. Und im Dezember 2016 verpflichteten sich alle Bundesländer im Rahmen der Kultusministerkonferenz, künftig einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf das „Lernen in der digitalen Welt“ zu legen.
Schulen können Einsatz ab sofort beantragen
Passiert ist in all den Jahren aber zu wenig. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Das Land stellt den Schulen in NRW mit „Logineo NRW“ eine datenschutzrechtlich geprüfte Plattform kostenlos zur Verfügung. Nach Angaben des Ressorts von Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) bietet das Programm Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit, über das Internet miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Nach der Pilotphase, so wirbt das Bildungsportal des Landes auf seiner Internetseite, können Schulen den Einsatz der Plattform ab sofort beantragen – im Jahr 2020. Kommunikation mit Schülerinnen und Schülern ist darüber derzeit noch nicht möglich, ein Datenupload auch nicht, Videokonferenzen ebenfalls nicht. All das soll noch kommen – bis dahin hilft den Lehrkräften nur Stückwerk mit einer Mischung unterschiedlicher Anbieter und Kanäle.
In Hamburg rufen ähnliche Umstände den Datenschutzbeauftragten Johannes Caspar auf den Plan. Das dortige Portal „EduPort“, das von der Schulbehörde betrieben wird, bildet nach seinen Angaben noch nicht all das ab, was für einen digitalen Unterricht tatsächlich erforderlich wäre. „Insbesondere fehlt die Möglichkeit, mittels Videokommunikation einen direkten Kontakt untereinander herzustellen, der auch einen digitalen Unterricht ermöglichen würde“, so Caspar auf Anfrage. Dies sei deshalb unbefriedigend, weil die meisten der stattdessen aktuell in Hamburger Schulen zum Einsatz kommenden Videokonferenzsysteme Defizite in puncto Datenschutz und Datensicherheit aufwiesen.
Noch hat kein Land eine ideale Lösung
Größtes Problem ist häufig, dass die Server amerikanischer Unternehmen wie die der Microsoft-Tochter Skype in den USA stehen und hiesige Datenschutzbestimmungen ins Leere laufen. Mit Risiken: Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass Mitarbeiter von Skype teils Gespräche mithören und analysieren, um die Daten von Sprachassistenzsystemen zu verbessern. In Rheinland-Pfalz empfiehlt das Haus von Schulministerin Stefanie Hubig (SPD), die derzeit auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz ist, daher seit der Corona-Krise das datenschutzkonforme Programm Webex für Videokonferenzen zu Unterrichtszwecken. Fakt ist jedoch: Noch hat kein Land eine ideale Lösung.
Bei Eltern- und Lehrervertretern stößt das auf Unverständnis. „Trotz der Diskussionen zum Thema Digitalisierung seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts und anschließend der Diskussion zum Digitalpakt haben es die Kultusminister versäumt, hier datenschutzkonforme Plattformen zu schaffen“, sagt Stephan Wassmuth, Vorsitzender des Bundeselternrates, auf Anfrage. Den Lehrkräften könne man nur beschränkt Vorwürfe machen, da sie sicherlich in guter Absicht zu helfen versuchen, sagt Wassmuth.
Einheitliche Lernplattform nicht umsetzbar
Auch Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, sieht Versäumnisse. „Ich hätte mir bei aller Liebe zum Bildungsföderalismus schon lange gewünscht, dass man sich da länderübergreifend koordiniert und die Kräfte bündelt. Das ist leider nicht geschehen.“ Und stößt beim NRW-Schulministerium dazu noch auf Ablehnung. Eine einheitliche Lernplattform, der alle 16 Bundesländer ebenso wie der Bund zustimmen müssten, ist weder realistisch noch schnell umsetzbar, heißt es von dort. Meidinger sieht den Umgang mit dem Datenschutz jedoch angesichts der Krise pragmatischer. „Ich glaube, dass es jetzt mehr darauf ankommt, in den digitalen Tools, die sich in der Praxis bewährt haben, den Datenschutz zu verbessern als weiter an datenschutzkonformen Lernplattformen herumzubasteln, die aber allesamt den Praxistest nicht bestanden haben“, so der Lehrervertreter.
Dabei hat er den Digitalverband Bitkom an seiner Seite, in dem auch Riesen wie Google organisiert sind. Präsident Achim Berg, der einst die Geschäfte von Microsoft in Deutschland führte, ruft Politik und Verwaltung dazu auf, klar zu machen, welche Anwendungen rechtssicher im Unterricht eingesetzt werden können. Es brauche bei der Auswahl der Plattformen aber „mehr Flexibilität und weniger Scheu“, sagt Berg.