Holocaust-Gedenktag im Bundestag Überlebende erzählt von der Dunkelheit im Konzentrationslager

Berlin · „Brot, Kartoffel und Suppe. Das ganze Leben drehte sich um Essen.“ Die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher hat zum Holocaust-Gedenktag in einer beeindruckenden Rede im Bundestag von ihrer Kindheit im Konzentrationslager Theresienstadt erzählt.

 Inge Auerbacher, Holocaust-Überlebende, spricht bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag.

Inge Auerbacher, Holocaust-Überlebende, spricht bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Sie kann es noch riechen. Den schäbigen Abfall von damals. Die verfaulten Rüben und Kartoffelreste. Inge Auerbacher hat sich aufgemacht – noch einmal von New York nach Berlin. Das ist gerade unter Corona-Bedingungen eine beschwerliche Reise, erst recht für eine 87 Jahre alte Frau. Doch für diesen 27. Januar, den Jahrestag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wollte sie nach Berlin kommen. In ein Haus, dessen Glaskuppel Transparenz und Offenheit eines Landes in Frieden und Wohlstand verkörpern soll. Auerbacher sitzt in dieser Vormittagsstunde auf einem Stuhl am Rednerpult des Bundestages. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz haben sie auf dem Weg dorthin gestützt. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, holen sie nach ihrer Rede vom Pult ab und führen sie zurück zu ihrem Platz.

Dazwischen fesselt Auerbacher ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit ihrer Geschichte. Sie führt die Abgeordneten, Besucher und Gäste des Bundestages von diesem Ort demokratischer Freiheit erzählerisch in die Dunkelheit des Konzentrationslagers Theresienstadt, wohin sie mit ihrer Familie von den Nazis deportiert worden war. Die Erinnerung ist wach. „Wer bin ich? Ich bin ein Mädchen aus dem badischen Dorf Kippenheim“, sagt Auerbacher. Ein Ort, in dem Juden und Christen friedlich gewohnt und gelebt hätten – bis die Nazis sich die Macht in Deutschland griffen.

Auerbacher kam mit ihren Eltern nach Theresienstadt, das für Zehntausende Jüdinnen und Juden nur ein „Durchgangslager vor ihrer Vernichtung“ in Auschwitz gewesen war, wie sie erzählt. „Ein Muster-Ghetto für eine verlogene Show der Nazis für das Internationale Rote Kreuz.“ Es habe für die Gefangenen keinen Ausweg von dort gegeben. „Nur die Gaskammern in Auschwitz, zu verhungern, Selbstmord oder an Krankheit zu sterben“, dies sei der einzige Weg raus aus diesem Leiden im KZ Theresienstadt gewesen.

Auerbacher erinnert, wie sie als Kind die wichtigsten Worte für ein Überleben im KZ gelernt habe: „Brot, Kartoffel und Suppe. Das ganze Leben drehte sich um Essen.“ Und ums Durchhalten. Ihr Spielplatz als Kind im KZ sei „ein übelriechender Abfallhaufen“ gewesen, in dem sie nach halb verfaulten Rüben und Kartoffelschalen gesucht hätten. Sie und ihre Freundin Ruth Abraham, ein jüdisches Mädchen aus Berlin. Ruth und sie hätten sich damals versprochen, wenn sie Theresienstadt überlebten, dann würden sie sich gegenseitig besuchen. Abraham käme dann nach Kippenheim, sie, Auerbacher, würde nach Berlin kommen. „Ruth und ich waren wie Schwestern.“

Auerbachs Freundin wurde von den Nazis ermordet

Jetzt ist Auerbacher in Berlin, an einem 27. Januar, 77 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee. Das KZ Theresienstadt wurde erst am Anfang Mai 1945 befreit. „Liebe Ruth, ich bin hier in Berlin, um Dich zu besuchen“, ruft sie in den Saal. Ihre Freundin kann sie nicht mehr hören. Ruth Abraham wurde zwei Wochen vor ihrem zehnten Geburtstag von den Nazis vergast.   

Bundestagspräsidentin Bas erinnert an Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jedes Menschen!“ Und daran, dass in den Gaskammern und Konzentrationslagern der Nazis 1,5 Millionen jüdische Kinder umkamen. Auerbacher überlebte. Sie lebt seit 75 Jahren in New York, studierte Chemie, arbeitete 38 Jahre in der medizinischen Forschung. Heute bekümmert sie das Wiederaufkommen von Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland: „Leider ist dieser Krebs wiedererwacht. Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden.“ Jetzt, an diesem Jahrestag in Berlin, wünscht sie sich die Versöhnung aller Menschen –weltweit. Und sie bittet darum, dafür eine Kerze zu entzünden.

Israels Parlamentspräsident Mickey Levy wird nachher sagen: „Es ist unfassbar, dass man einem Mädchen die Kindheit raubt.“ Er dankt Auerbacher, dass sie ihre persönliche Geschichte über die Dunkelheit im KZ Theresienstadt „mit uns geteilt hat“. Levy sagt über die von den Nazis organisierte industrielle Vernichtung der Juden Europas: „Nie wieder. Nie wieder!“

Um 11.14 Uhr schließlich liegen sich Auerbacher und Levy mit Tränen in den Augen in den Armen. Die Abgeordneten des Bundestages klatschen Beifall. Nur in den Reihen der rechten AfD gibt es Volksvertreter, die selbst in einer solchen Stunde nicht applaudieren.

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