Interview mit Politologe Martin Pfafferott „Im Idealfall ist eine Minderheitsregierung von Vorteil für alle“

Bonn · Auch nach dem knappen Beschluss des Bonner SPD-Parteitags ist die dritte große Koalition noch lange nicht in trockenen Tüchern. Sollte sie scheitern, steht wieder das Modell einer Minderheitsregierung im Raum. Der Bonner Politologe Martin Pfafferott ist Experte dafür.

 März 2012: Vereinzelte Parlamentarier stehen im Plenum des Düsseldorfer Landtages zusammen. Nach dem Scheitern der rot-grünen Minderheitsregierung hatte sich dieser zuvor aufgelöst – hier hat das Modell nicht funktioniert.

März 2012: Vereinzelte Parlamentarier stehen im Plenum des Düsseldorfer Landtages zusammen. Nach dem Scheitern der rot-grünen Minderheitsregierung hatte sich dieser zuvor aufgelöst – hier hat das Modell nicht funktioniert.

Foto: picture alliance / dpa

„Die ideale Minderheitsregierung“ – heißt das „ideal“ für die Partei? Für das Land? Für die Gesellschaft?

Martin Pfafferott: Ich habe versucht zu zeigen, dass Minderheitsregierungen in einem Idealfall den Interessen aller Beteiligten entsprechen können. In einem solchen Fall ist eine Minderheitsregierung kein Defizit, sondern ganz im Gegenteil von Vorteil für alle – für die, die regieren, und für die, die tolerieren oder stützen. Und indem sie politische Blockaden löst, ist sie auch für das politische System des Landes gut.

Minderheitsregierung ist nicht gleich Minderheitsregierung?

Pfafferott: „Tolerierte“ Minderheitsregierungen betreiben die Gesetzgebung mit unterschiedlichen Partnern und in überschaubaren Zeiträumen. Sie entstehen „von Fall zu Fall“. Die „gestützten“ Minderheitsregierungen – die Politologie nennt sie „Quasi-Koalitionen“ – agieren im Grunde wie Mehrheitsregierungen. Es gibt gleiche Partner, keine wechselnden Mehrheiten, häufig ist das alles auch schriftlich vereinbart. Was die Beweggründe angeht, gibt es auf der einen Seite Minderheitsregierungen, die „aus Verlegenheit“ entstehen, weil alles andere unmöglich ist. Dies gälte derzeit für eine eventuelle Minderheitsregierung im Bund. Zum anderen können Minderheitsregierungen aber auch von Anfang an gewollt sein.

Warum? Der Laie denkt: Es ist schwierig für eine Regierung, wenn die Opposition die Mehrheit hat.

Pfafferott: Unsere politische Kultur ist sehr darauf hin orientiert, dass Parteien miteinander regieren. Minderheitsregierungen stören diese Annahme. Aber genau darin gründet ihre Stabilität. Nicht immer ist Regierungsverantwortung das erste Ziel von Parteien. Sie können auch neue Wähler gewinnen wollen oder sich um die innerparteiliche Geschlossenheit sorgen. Beides wird gefährdet, wenn man an der Regierung ist – die Statistik und die Erfahrung zeigen das. Vor allem gilt das für kleine oder noch nicht völlig etablierte Parteien oder für solche mit sehr heterogener Struktur. Für solche Parteien kann es von Vorteil sein, auf das Regieren zu verzichten. Dann hat die Regierung zwar keine Mehrheit im Parlament – aber eine der an ihrer Aufrechterhaltung interessierten Akteure.

Man klammert die Parteien aus, die nicht regieren wollen, und hat eine Mehrheit?

Pfafferott: Genau. Für die Stabilität ist es vollkommen egal, ob einzelne Parteien mit am Kabinettstisch sitzen. Es reicht, wenn man weiß, dass sie die Regierung nicht stürzen werden. Ich habe das an drei Fällen untersucht: zweien in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 und dem in NRW zwischen 2010 und 2012. Der nächste Schritt war, zu sagen, dass es einen Idealfall gibt, in dem jede einzelne Partei ein Interesse daran hat, dass die Minderheitsregierung im Amt bleibt. In so einem Fall sitzt sie absolut sicher im Sattel. Der Fall in Sachsen-Anhalt von 1998 bis 2002 kam sehr nahe an diesen Idealfall heran. Die SPD-gestützte Minderheitsregierung wurde von der PDS toleriert, weil die ihren Mitgliedern eine Regierungsbeteiligung nicht antun wollte. Die DVU wollte nicht regieren, und der CDU erschienen vier Jahre Opposition attraktiver, als Juniorpartner in einer SPD-geführten großen Koalition zu sein.

Frei nach Christian L.: „Lieber ohne Mehrheit regieren als nicht zu regieren“?

Pfafferott: Was auf den ersten Blick keine direkte Mehrheit verspricht, bedeutet noch lange nicht, dass dahinter kein stabiles Konstrukt steht. Solche Modelle müssen den Ruf des Irrationalen verlieren; in Wahrheit sind sie zutiefst rational. Auch, weil sie so unbekannt und so unbeliebt sind. Wer in eine Minderheits-regierung geht, muss sich das viel besser und genauer über-legen. Dann macht er sich in aller Regel auch gute Gedanken über Kosten und Nutzen.

Man hat nicht das Kapital einer soliden Koalition, das man mit vollen Händen ausgibt …

Pfafferott: … sondern es ist eine Vernunftlösung. Eine Minderheitsregierung ist niemals eine Bauchentscheidung. Man hat genau abgewogen und überlegt, was über eine Legislaturperiode hinweg Chancen und die Risiken sind. Wenn die Mehrheit sowieso reicht, macht man das nicht unbedingt.

Sie haben auch die Minderheits-regierung in NRW untersucht. Nach zwei Jahren wurde die durch Neuwahlen in eine Mehrheitsregierung überführt. Lagen die Verhältnisse anders als bei dem sehr stabilen Sachsen-Anhalt-Modell?

Pfafferott: In NRW arbeitete die rot-grüne Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten, konnte aber mit den Interessen der anderen Parteien spielen. Sowohl Linke als auch FDP hatten damals gute Gründe, sich keine Neuwahlen zu wünschen. Die Linkspartei hingegen wollte Projekte der schwarz-gelben Vorgängerregierung rückgängig gemacht sehen, zum Beispiel die Studiengebühren.

Gescheitert ist das Modell letzten Endes dann aber doch ...

Pfafferott: Das lag an einer komplexen Situation bei der Abstimmung über den Landeshaushalt. Hätte man ein paar Tage mehr Zeit gehabt, hätte es auch eine Mehrheit dafür gegeben. Linke und FDP wollten eigentlich nicht, dass der Haushalt scheitert, mussten aber kurzfristig Farbe bekennen, weil sie sonst an Glaubwürdigkeit verloren hätten. Es war klar, dass von Neuwahlen die SPD profitieren würde – wie sich ja dann auch gezeigt hat.

Wie lautet die Quintessenz der drei untersuchten Fälle?

Pfafferott: Minderheitsregierungen sind stabil, weil sie sich auf Interessen aller Beteiligten stützen können. Ich plädiere dafür, sich die Stabilität dieses Modells anzusehen und es nicht auf die Mehrheitsfrage zu verkürzen. Man kann es auch auf die Bundesebene übertragen und schauen, wie weit ein solches Modell dort tragen würde. Reicht es für vier Jahre, oder haben wir Verhältnisse, in denen es so eine „Interessens-Mehrheit“ nicht gibt? Man sollte sich die konkreten Situationen anschauen.

Sie haben mit dieser Arbeit begonnen, als von der schwierigen Lage im Bund noch keine Rede war ...

Pfafferott: Damals war die Minderheitsregierung in NRW gerade frisch im Amt, und das Thema Minderheitsregierung war durchaus virulent. Auch nach der letzten Bundestagswahl gab es so eine Debatte bereits. Trotzdem ist das Zusammentreffen mit den Ereignissen natürlich ein interessanter Zufall. Am 7. November habe ich die Arbeit verteidigt – und am 24. November scheiterte Jamaika, und die ganze Frage wurde wieder aktuell. Sie wird auch zunehmend wichtiger werden, wenn man auf die Entwicklung des Parteien-systems schaut. Wir finden eine Polarisierung und eine Koalitions-Unfähigkeit vieler Parteien rechts und links vor. Das Parteiensystem fragmentiert sich.

Wollen Sie in dieser Richtung weiterforschen?

Pfafferott: Ich glaube, dass Minderheitsregierungen von der Politikwissenschaft verstärkt in den Fokus genommen werden müssen. Mit jeder Partei, die neu in den Bundestag kommt, werden direkte Mehrheiten unwahrscheinlicher. Und demokratietheoretisch haben Minderheitsregierungen das große Plus, dass sie Auswege aus Blockaden bieten. Sie zeigen einen Weg auf, der genauso gangbar ist. Man kann die rein arithmetischen Mehrheits-Anforderungen einfach beiseiteschieben, wischt alles vom Tisch und schaut nochmal neu drauf. Minderheitsregierungen können die Variantenvielfalt erweitern, können auch dazu beitragen, große Koalitionen zu vermeiden. Man kann sagen: OK, wir haben keine 50 Prozent, aber wir besorgen uns die Mehrheit eben anders. Darüber hinaus bestärken Minderheitsregierungen auch die traditionellen Lager-Bündnisse. Aus parteitheoretischer Sicht ist es sehr wünschenswert, dass sich solche traditionellen Lager gegenüberstehen.

Minderheitsregierungen können das Parteiensystem also sogar stabilisieren? Derzeit treten Gruppen, die früher oft zusammengingen – etwa Union und FDP –, ja teilweise als unversöhnliche Gegner auf. Solche Modelle können helfen, sie wieder zusammenzubringen?

Pfafferott: Ja. Und: Sie können dabei helfen, Gruppen zueinanderzuführen, die bisher überhaupt nicht miteinander konnten. Die Heranführung der PDS zur Regierungsfähigkeit hat mit dem Tolerierungsmodell in Sachsen-Anhalt begonnen. Eine Minderheitsregierung kann helfen, sich erst mal kennenzulernen, wenn zwei Parteien sich noch nicht ganz trauen. Man kann feststellen, ob und wie man miteinander arbeiten kann. Auf diese Weise kann man ein Fundament für eine kommende stärkere Zusammenarbeit legen.

Eine Partei ist noch nicht ganz mit dabei, aber schon Zaungast?

Pfafferott: Sie ist viel mehr. Sie entscheidet mit und kann aktuell Politik mit beeinflussen.

Insgesamt betrachtet: Müssen also nicht nur die Parteien ihre Sichtweise auf das Modell ändern, sondern auch die Bevölkerung?

Pfafferott: Den Parteien wird oft vorgeworfen, sie seien nur an den Vorteilen des Regierens interessiert, an den Ministersesseln und Dienstwagen. An Minderheitsregierungen hingegen zeigt sich wie sonst nirgendwo, dass Parteien auch bereit sind, das Regieren zu beeinflussen und dabei auf alle Vorzüge des Regierens zu verzichten. Das ist der beste Beweis dafür, dass es Parteien gibt, die sich auch wirklich auf Inhalte fokussieren. Das sollte auch honoriert werden, finde ich. Es ist etwas paradox, den Parteien vorzuwerfen, sie seien auf Ämter fixiert, und zugleich ein solches Modell ebenfalls abzulehnen.

In der aktuellen Lage: Wie wär’s mit einer Minderheitsregierung von Union und Grünen?

Pfafferott: Aktuell halte ich das für unwahrscheinlich. Die Union hätte nicht den Geist dafür, noch eine dritte Sondierung einzugehen. Und wenn sie tatsächlich eine Minderheitsregierung stellen würde, hätte sie auch mit den Grünen ja immer noch keine Mehrheit. Es gäbe wieder komplizierte Koalitionsverhandlungen, man müsste den Grünen ein paar Ministerien geben und sich dann immer noch auf Mehrheitssuche machen. Wenn man das ohnehin muss – dann macht man’s besser allein.

Martin Pfafferott: Die „ideale Minderheitsregierung“ – Bedingungen für ihr Entstehen und Überleben anhand der Beispiele Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. (Erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2018 im Verlag Springer VS)

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