Fall Amis Amri Jäger wählt die Vorwärtsverteidigung

Düsseldorf · Von Rücktrittsgedanken beim NRW-Innenminister keine Spur. Für das Nicht-Handeln im Fall Amri sollen eine Fehleinschätzung aller Sicherheitsbehörden und zu hohe Hürden für eine Abschiebehaft verantwortlich sein.

Die Sitzung des Düsseldorfer Landtags mäandert schon knapp zwei Stunden vor sich hin, als endgültig klar wird, dass Ralf Jäger so schnell nicht zurücktreten wird. Der nordrhein-westfälische Innenminister schaut schon länger ins Nichts und lässt seine Lesebrille immer wieder routiniert wie einen Rosenkranz durch die Finger gleiten. Die Abgeordneten der Opposition werfen Jäger in einer schieren Endlosschleife „Verantwortungslosigkeit“, „Halbwahrheiten“ und „Behördenversagen“ vor. Jetzt endlich hat er selbst das Wort. Und lässt keinen Zweifel an seinem Behauptungswillen. Hier ist einer im Kampfmodus.

Gönnerhaft gibt Jäger den Abgeordneten den „kollegialen Hinweis“, sich doch an einen Journalisten der Deutschen Presse-Agentur zu wenden, wenn sie etwas über ein Informationsleck bei den Sicherheitsbehörden erfahren wollten. Außerdem freue er sich, sagt er höhnisch, dass die Abgeordneten sich in der Sprache zu mäßigen begännen und nur noch von „Ungereimtheiten“ redeten und nicht mehr von „Katastrophen und Fehlern“. Gibt sich so jemand, der schon mit einem Bein nicht mehr im Amt ist?

Der Fall des Berliner Attentäters Anis Amri setzt Jäger seit Wochen zu. Amri war im Kreis Kleve gemeldet. In NRW wurde seine Akte als islamistischer „Gefährder“ bis zum Schluss geführt. Hier liefen viele Erkenntnisse zusammen. Etwa dass der Tunesier sich für Waffen und Bomben interessierte. Dass er in radikalen Netzwerken verkehrte. Dass er die Behörden mit 14 verschiedenen Identitäten narrte.

Am Ende steht das Weihnachtsmarkt-Attentat mit zwölf Toten. Selbst wenn Jäger nicht schon durch den Misshandlungsskandal im Flüchtlingsheim Burbach, die Hogesa-Krawalle oder die Kölner Silvesterübergriffe angezählt wäre, würde sich die Frage nach der politischen Verantwortung stellen. Doch der 55-jährige SPD-Politiker aus Duisburg, der viel auf seine Robustheit hält, geht an diesem Donnerstag in die Vorwärtsverteidigung. Sein Amtsverständnis: „Ein Minister hat nicht Verantwortung zu übernehmen, ein Minister hat immer die Verantwortung in einem sensiblen Ressort mit 50.000 Mitarbeitern.“ Dieser werde sich NRW mit einem Aufklärungsbeitrag im Fall Amri stellen.

Versuchte das NRW-Innenministerium zunächst den Eindruck zu vermitteln, Amri sei praktisch seit Februar 2016 nur noch in Berlin gewesen, musste die Verteidigungslinie inzwischen verfeinert werden. Wichtigste Botschaft: Wenn es Fehleinschätzungen gab, dann nur bei allen 40 im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern (GTAZ) vertretenen Sicherheitsbehörden. Dort sah man keine konkrete Anschlagsgefahr. „Mit dem Wissen von heute ist uns allen klar: Anis Amri wurde falsch eingeschätzt“, sagt Jäger nun.

Da sich nicht mehr bestreiten lässt, dass Amri seit Februar 2016 noch mindestens 40 Tage in NRW verkehrte, hier seine „Gefährderakte“ und die ausländerrechtliche Zuständigkeit lag, erklären die Ministerialen in Düsseldorf ihr Nicht-Handeln am juristischen Hochreck. Eine Abschiebehaft sei selbst bei einem behördenbekannten Terroverdächtigen Amri, gegen den sechs Ermittlungsverfahren liefen, schlicht unmöglich gewesen, so die Lesart.

Es habe zwar ausreichende Haftgründe gegeben, führt Jägers Abteilungsleiter Burkhard Schnieder aus. Diese seien jedoch durch einen entscheidenden Hafthinderungsgrund ausgehebelt worden: Es sei nicht nachzuweisen gewesen, dass das in Abschiebefragen sperrige Tunesien binnen einer vorgeschriebenen Frist von drei Monaten Pass-Ersatzpapiere zur Verfügung stellt. Selbst eine gerichtsfeste Auskunft von Interpol Tunis im Oktober 2016, dass Amri tunesischer Staatsbürger sei, soll daran nichts geändert haben.

Problematisch bleibt, dass der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, mehrfach darauf hingewiesen hat, dass die Drei-Monats-Regel außer Kraft gesetzt werden kann. Und zwar dann, wenn der Ausreisepflichtige seine Abschiebung selbst behindert. „Und das kann man bei Amri vertreten“, sagt Gnisa, „weil er unter zig verschiedenen Identitäten aufgetreten ist.“

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