GA-Interview mit Juso-Chef Kevin Kühnert: Hartz IV-Schikanen gehören abgeschafft

Bonn · Im Interview spricht Juso-Chef Kevin Kühnert über Veränderungen bei Hartz IV, eine Erhöhung des Mindestlohn und die Erneuerung seiner Partei.

Er halte nichts von einem bedingungslosen Grundeinkommen, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert. Über die Arbeits- und Sozialpolitik der SPD sprach mit ihm Jan Drebes.

Herr Kühnert, was ist aus der guten alten Arbeiterpartei SPD geworden?

Kevin Kühnert: Wir haben weiterhin den Anspruch, die organisierte Arbeitnehmerschaft zu vertreten. Ich finde, die SPD hat die Interessen dieser Menschen auch in besonderer Weise im Blick. Aber ernüchternd muss ich feststellen, dass wir derzeit quer durch alle gesellschaftlichen Milieus hindurch nur 20 Prozent holen. Deswegen können wir für uns nicht in Anspruch nehmen, die von Arbeitnehmern am meisten geschätzte Partei zu sein. Seit Jahren nicht mehr. Das muss uns zu denken geben.

Woran liegt das?

Kühnert: Wir haben in den vergangenen 15 Jahren massiv Vertrauen bei unserer Wählerschaft zerstört. Die SPD hat mit ihrem Kernthema, der Arbeits- und Sozialpolitik, im Rahmen der Agenda-Maßnahmen Schindluder getrieben. Ich glaube nicht an die vereinfachende Erzählung, dass die Schröder’sche Politik gut für das Land und schlecht für die Partei war. Sie hat auch Millionen Menschen Ungerechtigkeit durch Hartz IV und prekäre Arbeitsverhältnisse gebracht und das nehmen uns diese Leute zu recht übel.

Für welche Korrekturen des Hartz-IV-Systems plädieren Sie?

Kühnert: Bestehende Schikanen gehören abgeschafft, die Sanktionsmöglichkeiten vorneweg. Viele Menschen hängen in unsinnigen Weiterbildungsmaßnahmen fest oder müssen umständlich die Reparatur von Haushaltsgeräten erstreiten. Da sind viele Korrekturen nötig, um wieder zu einem würdevollen Umgang mit den Betroffenen zu finden.

Aber die Probleme liegen ja tiefer, wenn es etwa um die Sicherung von Arbeit geht.

Kühnert: Deswegen werden wir in den kommenden Jahren ein Programm für Weiterbildung erarbeiten, das dann im Wahlprogramm stehen wird. Die Idee eines Chancenkontos ist ein erster Ansatz, bei dem jeder einen gewissen Betrag für zusätzliche Qualifizierungen oder neue berufliche Orientierung bekommt.

Halten Sie es für nötig, dass der Mindestlohn erhöht wird, damit Betroffene im Alter nicht nur die Grundsicherung bekommen?

Kühnert: Unbedingt! Um den Mindestlohn armutssicher zu machen, müsste er schon heute zwölf Euro oder mehr betragen.

Wann soll das kommen?

Kühnert: Eine Erhöhung des Mindestlohns auf mehr als zwölf Euro sollte im Interesse der Beschäftigten besser gestern als heute erfolgen. Der Koalitionsvertrag mit der Union schließt eine Debatte darüber ja nicht aus, zumal unser Bundesfinanzminister Olaf Scholz den Vorschlag ja selbst Ende letzten Jahres gemacht hat. Klappt das aber nicht, und davon muss man bei der Union ausgehen, gehört ein deutlich höherer Mindestlohn zwingend in das künftige SPD-Wahlprogramm und je nach Ergebnis in den nächsten Koalitionsvertrag.

Mit dem demografischen Wandel wankt die lohnbasierte Finanzierung des Sozialstaats. Sollten Steuern stärker für die Bezahlung etwa der Renten herangezogen werden?

Kühnert: Das Versprechen des Sozialstaats lautet doch, dass niemand von der Gesellschaft fallen gelassen wird. Es ist aber absehbar, dass in spätestens zehn Jahren zu wenig Beitragszahler für viel zu viele Empfänger aufkommen müssen. Ich kann also zu keinem anderen Schluss kommen, als die Zuschüsse über Steuern zu erhöhen. Deswegen sieht das SPD-Rentenkonzept ja eine höhere Steuerfinanzierung vor.

Und auch die Vermögenssteuer, die ins SPD-Programms kommen soll, kann dafür genutzt werden?

Kühnert: Ja, die Rentenkasse ist eines von vielen Themen, die die Notwendigkeit einer stärkeren Vermögensbesteuerung unterstreichen. Auch die Erbschaftssteuer gehört überprüft und angepasst. Denn die Verteilung von Vermögen ist in Deutschland alles andere als gerecht. Über das Wie dieser Besteuerung lassen wir Jusos im Rahmen des Erneuerungsprozesses mit uns diskutieren. Nicht über das Ob.

Teilen Sie die Prognose von IT-Fachleuten, dass in den nächsten 20 Jahren die Hälfte aller Aufgaben der heute Beschäftigten von Maschinen übernommen werden?

Kühnert: Über die konkreten Prozentsätze lässt sich streiten. Aber mittlerweile ist doch den meisten klar, dass die Digitalisierung in fast allen Berufen für massive Veränderungen sorgt. Jobs verschwinden, neue entstehen. Die SPD muss es zu ihrer wesentlichen Aufgabe machen, diesen Prozess zu steuern und Vorsorge zu treffen. Wir waren nie gegen technischen Fortschritt. Wir wollen ihn aber auch für alle nutzbar machen.

Aber was sagen Sie den Menschen, die für eine Umschulung nicht mehr in Frage kommen? Ist das bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung?

Kühnert: Ich halte nichts von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Wenn wir es als Antwort auf die Digitalisierung einführen, kapitulieren wir vor dem Wandel. Wir würden unterstellen, dass die Umwälzungen nicht mit Instrumenten am Arbeitsmarkt aufgefangen werden könnten. Weiterbildung und Qualifizierung gehören in den Fokus, auch der Unternehmen.

Die Idee des Grundeinkommens findet in der SPD mehr Anhänger.

Kühnert: Ich finde es viel interessanter, dass zuletzt vor allem viele Unternehmer für ein bedingungsloses Grundeinkommen plädierten. Sie könnten sich mit einer solchen Maßnahme ja auch prima aus der Verantwortung für die Menschen stehlen, die sie gerne „wegrationalisieren“ würden, wie das heute in manchen Chefetagen heißt.

Sie wollen im Erneuerungsprozess der SPD die Arbeitsgruppe zu sozialen Fragen leiten. Gehören auch Ex-Vorsitzende wie Martin Schulz oder Sigmar Gabriel eingebunden?

Kühnert: Das Schöne an unserem Prozess ist ja, dass sich jedes Mitglied einbringen kann. Der Vorschlag von Martin Schulz zu einer europäischen Verfassung sollte unbedingt Teil unserer Erneuerung werden. Und dass wir künftig von Sigmar Gabriel nichts mehr hören werden, halte ich allein schon aufgrund seines Naturells für ausgeschlossen.

Dass sie aber mit Olaf Scholz und Andrea Nahles Teil einer der Arbeitsgruppen werden, glauben Sie nicht?

Kühnert: Nein, und ich würde meiner Partei auch sehr raten, im Erneuerungsprozess nicht zu sehr die altbekannten Gesichter nach vorne zu stellen. Zu viele unserer Spitzengenossen werden weiterhin kritisch beäugt, haben öffentliches Vertrauen verspielt. Davon sind auch Olaf Scholz und Andrea Nahles nicht frei. Scholz muss als Vizekanzler die Union treiben, da gibt es genug zu tun. Und Andrea Nahles muss als Parteichefin den gesamten Prozess koordinieren, eine Riesenaufgabe.

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